25 Jahre Mauerfall: Mündig, friedlich und entschlossen
Berlin/Leipzig - Die Fahrt nach Leipzig beginnt mit einer Flucht über die Dächer von Berlin. Am Vormittag des 9. Oktober 1989 verlässt Siegbert Schefke seine Wohnung in Berlin-Prenzlauer Berg über die Dachböden der Nachbarhäuser. Er steigt in den Trabant-Kombi seines Freundes Aram Radomski. Die beiden Mittzwanziger sind vorsichtig, die Stasi beobachtet sie, Männer in Zivil sitzen in einem Lada vor Schefkes Haus. Der hat vor dem Verlassen der Wohnung Zeitschaltuhren aktiviert, Licht, Radio und Fernseher gehen nun an und aus. Es sieht aus, als sei jemand zu Hause.
Schefke und Radomski wollen nach Leipzig. Es ist Montag. Seit einigen Wochen versammeln sich an diesem Wochentag Tausende Menschen in den Kirchen der sächsischen Metropole zu Mahnwachen und Friedensgebeten. Leipzig ist das Zentrum der Proteste in der DDR, in keiner anderen Stadt des Landes zeigen so viele Menschen, wie unzufrieden und wütend sie auf die politische Führung sind. In Leipzig verhaftet die Polizei friedliche Demonstranten nach Friedensgebeten in den Kirchen. Die Zeitungen berichten, Rowdys hätten sich da zusammengerottet. „Wir wollten diese Diffamierung nicht zulassen. Wir wollten wissen, wie viel Demonstranten tatsächlich in Leipzig auf der Straße sind“, sagt Radomski.
Filmen fürs Westfernsehen
Im Kofferraum seines Trabant liegen, versteckt in Handtüchern, eine Videokamera und Fotoapparate. Seit drei Jahren arbeiten Schefke und Radomski in der DDR heimlich für das westdeutsche Fernsehen. Ihre Themen sind Umweltzerstörung, Waldsterben, der Zerfall der Städte und die Skinhead-Szene. Sie führen Interviews mit Bürgerrechtlern.
Über westdeutsche Korrespondenten und Politiker – sie dürfen an der Grenze nicht kontrolliert werden – gelangt das Filmmaterial zum Sender Freies Berlin (SFB). Dort bereitet es der 1983 aus der DDR ausgebürgerte Bürgerrechtler und Journalist Roland Jahn auf. Der heutige Chef der Stasi- Unterlagen-Behörde besorgt seinen Ost-Berliner Freunden die Filmausrüstung. Mehr als 30 TV-Beiträge entstehen so, sie sind in „Kontraste“, „Kennzeichen D“ und in den „Tagesthemen“ zu sehen.
Auf der Autobahn nach Leipzig fahren Schefke und Radomski an Militärfahrzeugen vorbei. Polizisten, Soldaten und Kampfgruppen stehen in Leipzig in Alarmbereitschaft, um die „Konterrevolution“ niederzuschlagen, erfahren sie. In Leipzig angekommen, sehen sie Polizisten mit Schilden. Die Stadt wirkte gespenstisch, erinnert sich Radomski. Die beiden Berliner haben Angst. „Wir wussten überhaupt nicht, was uns erwartet. Was passiert, wenn sie uns mit unseren Kameras erwischen?“ Der evangelische Pfarrer der Leipziger Lukas- Gemeinde, Christoph Wonneberger, berichtet am Abend in den „Tagesthemen“, alles hätte darauf hingedeutet, dass es einen großen Polizeieinsatz geben würde. „Die Angst vor dem Abend war sehr groß – bei den Demonstranten, bei der Bevölkerung und wahrscheinlich auch bei den Einsatzkräften.“
Am Nachmittag suchen Schefke und Radomski einen guten Platz, damit sie die Demo gut sehen können. Sie finden einen frei zugänglichen Balkon in einem Hochhaus am Hauptbahnhof, doch der Hausmeister warnt, überall sei Stasi. Sie klingeln beim Pfarrer der Reformierten Kirche und fragen, ob sie auf den Kirchturm steigen dürfen. Der Pfarrer erlaubt es.
Ein Wendepunkt in der deutschen Geschichte
Am Abend ziehen die Menschenmassen unter ihnen vorbei, sie rufen „Wir sind das Volk!“, „Keine Gewalt!“, „Freiheit und freie Wahlen!“, „Neues Forum zulassen“ und „Gorbi! Gorbi!“ 21 Minuten Bildmaterial nehmen Schefke und Radomski vom Kirchturm aus auf. Die Demo bleibt gewaltfrei, die Polizei hält sich zurück, regelt den Verkehr.
Schefke und Radomski wissen: Was sie soeben gefilmt haben, übersteigt alle Erwartungen. Die VHS-Kassette muss nun so schnell wie möglich nach Berlin gelangen, in den SFB zu Roland Jahn. Im Leipziger Hotel Merkur stecken sie die Kassette in der Drehtür Ulrich Schwarz zu. Der Leiter des Ost-Berliner-Spiegel-Büros hätte, wie alle West-Reporter, Berlin gar nicht verlassen dürfen. Schwarz gibt die Kassette nach seiner Rückkehr in Berlin am Abend des 10. Oktober 1989 am Eingang zum SFB ab.
Zuerst werden die Bilder aus Leipzig in der Sendung „Report“ gezeigt, später im „Heute Journal“, anschließend in den „Tagesthemen“ mit Hanns Joachim Friedrichs. Auch BBC und CNN zeigen sie weltweit. 70.000 Menschen, so wird an diesem Abend aus Leipzig berichtet, seien über den Leipziger Ring gezogen. Diese Demo am 9. Oktober 1989 ist die größte Protestdemonstration in der DDR seit dem 17. Juni 1953. Sie ist der Beginn der Friedlichen Revolution, ein Wendepunkt in der deutschen Geschichte. Einen Monat später fällt die Mauer.