27.550 Kilometer im Zug: Warum ein Berliner zu Europas toten Gleisen reist

Jon Worth fragt sich, warum der internationale Bahnverkehr immer schlechter wird. Mit einer Fahrt in 150 Zügen will er es herausfinden.

Im vergangenen Jahr rollte der Connecting Europe Express durch 26 Länder – auch über Grenzübergänge, die von keinem regulären Personenzug mehr genutzt werden. Jon Worth fuhr mit.
Im vergangenen Jahr rollte der Connecting Europe Express durch 26 Länder – auch über Grenzübergänge, die von keinem regulären Personenzug mehr genutzt werden. Jon Worth fuhr mit.Jon Worth

Straßburg in Frankreich, Vigo in Spanien, Vidin in Bulgarien. Bad Radkersburg in Österreich und Zittau in Sachsen. Nicht zu vergessen: Storlien in Schweden sowie Valga in Estland. Insgesamt mehr als 27.550 Kilometer mit dem Zug – und dort, wo keine Gleise liegen, auch mal ein paar Kilometer mit dem Klapprad.

Jon Worth aus Berlin hat drei lange Reisen kreuz und quer durch Europa vor sich. „Ich werde viele interessante Dinge erleben“, sagt der 41-Jährige. Doch der Bahnausflug der Superlative, bei dem Worth in 150 Zügen insgesamt mehr als 350 Stunden verbringen wird, dient nicht dem Vergnügen. Bei seinem Cross-Border-Rail-Projekt will der gebürtige Waliser erkunden, wie es um den grenzüberschreitenden Schienenverkehr steht. „Oft ziemlich schlecht“, klagt Worth. Er hat schon viel recherchiert.

Züge verpassen sich knapp am Grenzbahnhof

Europa – das hält auch Jon Worth für eine perfekte Idee. Grenzen sollen ihre trennende Wirkung verlieren, Menschen problemlos von einem Land ins andere reisen können. Soweit die Theorie. Aber wie sieht es in der Bahn-Praxis aus?

Nicht selten fehlen grenzüberschreitende Schienen, wo früher welche lagen, sagt der Politikwissenschaftler. Anderswo sind zwar Gleise verlegt, „aber die Fahrpläne sind so schlecht, dass man mit den Strecken fast nichts anfangen kann“. Oder es fehlen Züge, die ins Ausland fahren dürfen. Oder die Züge haben eine zu geringe Kapazität. Oder sie verfehlen einander knapp am Grenzbahnhof.

„Die Stadt ist mein Zuhause“, sagt Jon Worth über Berlin. Bald wird er seine Heimat für drei Zugreisen verlassen.
„Die Stadt ist mein Zuhause“, sagt Jon Worth über Berlin. Bald wird er seine Heimat für drei Zugreisen verlassen.Jon Worth

So viele Gründe, dann doch lieber mit dem Auto zu fahren – oder gar nicht. So viel zu tun, entgegnet Jon Worth. Am 13. Juni, um 6.46 Uhr will er am Berliner Hauptbahnhof seine erste Rundfahrt starten. Am 1. August, um 22.24 Uhr soll die dritte Tour dort enden.

74 Grenzübergänge stehen auf dem Reiseplan. Der schnellste Zug (in Frankreich) erreicht 194 Kilometer in der Stunde, der langsamste (in Kroatien) zuckelt mit Tempo 28 dahin.

Lob für Deutschland und Österreich

Der Brite, der in der Hafenstadt Newport aufgewachsen ist, lebt seit sieben Jahren in Berlin. „Die Stadt ist mein Zuhause.“ Von hier startet er oft zu diversen Bahnreisen, etwa nach Brugge in Belgien oder nach Maastricht in den Niederlanden, wo er als Dozent sein Geld verdient.

Von Deutschland ins Ausland mit dem Zug fahren: Das sei meist gut möglich, lobt Worth. Hier gebe es viele gute Beispiele, wie sich ein attraktiver grenzüberschreitender Bahnverkehr gestalten ließe. Auch Österreich könne bei dem Thema punkten. „Für die ÖBB gehört guter internationaler Verkehr zum Alltag“, sagt er. Die Nachtzüge der Marke Nightjet seien eine Bereicherung auf Europas Schienen.

Doch anderswo sehe es zum Teil überraschend schlecht aus – und einige dieser Fälle möchte Worth während seiner drei Sommerreisen kennenlernen. „Ich will Menschen vor Ort treffen, lokale Aktivisten, Verbandsvertreter, Kommunalpolitiker.“

Da sind Routen wie zwischen Lettland und Litauen oder zwischen Litauen und Polen, auf denen zwar Schienen liegen, wo aber keine Reisezüge verkehren. Oder nicht mehr verkehren. Besonders absurd findet es Jon Worth, dass Kaunas, in diesem Jahr europäische Kulturhauptstadt, per Bahn aus dem Ausland nicht mehr erreichbar ist.

Gemeinsam mit anderen Europäern, die das nicht hinnehmen wollen, hat er bereits im Frühjahr eine Petition gestartet – bisher ohne positives Ergebnis. „Es gibt einfach keine Antwort. Dabei sind vor Corona Züge über die Grenze zwischen Polen und Litauen gefahren.“ Doch die Dieseltriebwagen kehrten nicht zurück.

Nach 133 Jahren von den Gleisen verschwunden

Auch im Südwesten Europas gebe es Beispiele, wie man es in Europa eigentlich nicht machen dürfe, sagt Jon Worth. Traditionsreiche durchgehende Verbindungen wie den Süd-Express von Frankreich über Spanien nach Portugal gibt es nicht mehr.

Der Zug, der zuletzt von Hendaye über San Sebastian nach Lissabon fuhr und für seinen portugiesischen Barwagen gerühmt wurde, verschwand zu Beginn der Corona-Pandemie nach 133 Jahren von den Gleisen und kam nicht wieder. Der „Lusitania“, der Nachtzug zwischen Madrid und Lissabon, wurde nach immerhin 77 Jahren ausrangiert.

Ein anderes Beispiel sind mit viel Europageld gut ausgebaute Strecken, auf denen Reisezüge verkehren – aber das Angebot und die Fahrpläne sind so schlecht, dass es nur wenig Anreiz gibt, die Züge zu benutzen. So ist zwischen Spanien und Frankreich eine Hochgeschwindigkeitsstrecke entstanden, die Barcelona besser ans europäische Netz anschließen soll, auf der es aber nur wenige Fahrten gibt.

Anderswo fahren Züge von beiden Seiten bis zur Grenze, doch sie verfehlen sich am Grenzbahnhof, weil die Bahngesellschaften offensichtlich ihre Fahrpläne nicht untereinander abgestimmt haben. Mal verpassen sich die Bahnen nur um eine Minute, mal um knapp eine Dreiviertelstunde, wie an der Grenze zwischen Estland und Lettland. Dumm, wenn es lediglich wenige Fahrten oder sogar nur eine Fahrt am Tag gibt.

Zwei einzelne Tickets sind manchmal günstiger

Oder es fahren zwar Züge – aber der Kauf internationaler Tickets gestaltet sich deutlich schwieriger als beim Fliegen. Oft sollte man Tipps und Tricks kennen. „Als ich von Berlin nach Straßburg wollte, sollte ich für eine durchgehende Fahrkarte 120 Euro bezahlen.“

Bei einer weiteren Recherche fand Worth heraus, dass zwei separate Fahrkarten insgesamt preiswerter sind. Das erste Ticket von Berlin zum Grenzbahnhof Kehl kostete nur 35 Euro, für den kurzen Abschnitt über den Rhein hinweg in die elsässische Stadt wurden nur noch ein paar Euro fällig. Aber wer weiß das schon so ohne Weiteres?

Nah am Leben: Jon Worth unterwegs mit dem Zug zwischen Belgrad in Serbien und Bar in Montenegro.
Nah am Leben: Jon Worth unterwegs mit dem Zug zwischen Belgrad in Serbien und Bar in Montenegro.Jon Worth

Manchmal verkehren moderne Züge mit einem annehmbaren Fahrplan, doch die Kapazität reicht nicht aus. Ein Beispiel sind die oft ausgebuchten Dieselzüglein zwischen Kopenhagen und Hamburg, die innen auf manche klaustrophobisch eng wirken. Dass die Dänische Staatsbahn auf Catering verzichtet und ihre internationalen Fahrgäste nicht mal mit Kaffee versorgen lassen kann, ist da fast eine Petitesse.

Viele Verbesserungen wären ohne viel Geld machbar

Oder es fehlen Fahrzeuge – zum Beispiel für einen besseren Nachtzugverkehr, den immer mehr Akteure fordern. „Wagenmangel ist ein echtes Problem“, analysiert Jon Worth. Etwa beim geplanten European Sleeper, der eigentlich schon vom Sommer 2022 an Brüssel und Amsterdam mit Berlin und Prag verbinden soll. Doch wann er starten kann, steht in den Sternen.

Dass es schwierig ist und immer schwieriger wird, Bahnfahrzeuge grenzüberschreitend und in anderen Staaten einzusetzen (ein aktuelles Beispiel ist Italien), läuft ebenfalls den europäischen Sonntagsreden entgegen.

„Der internationale Bahnverkehr in Europa ist an vielen Stellen nicht gut. Und er hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert“, sagt Worth. „Früher war das Angebot vielerorts deutlich besser. Merkwürdig finde ich es auch, dass die Defizite kaum in der Öffentlichkeit debattiert werden.“

Das organisierte Europa spreche viel und gern über Visionen für neue Strecken und bessere Verbindungen, scheine sich aber kaum dafür zu interessieren, dass die Verbindungen am Ende tatsächlich attraktiver werden. Meist haben Politiker nicht ernsthaft etwas für die Bahn übrig, schon gar nicht für grenzüberschreitenden Verkehr.

Mit dem Zug der Sonne entgegen. Eine Abendszene irgendwo auf südosteuropäischen Gleisen.
Mit dem Zug der Sonne entgegen. Eine Abendszene irgendwo auf südosteuropäischen Gleisen.Jon Worth

Dabei wären Verbesserungen oft ohne großen Aufwand möglich. „Mehr Zugfahrten, bessere Fahrpläne, attraktive Tarife, das sind Ziele, die erreichbar sind“, sagt Worth. „Lobbyisten in Brüssel und anderswo sagen: Wir brauchen vor allem mehr Geld. Doch das ist in vielen Fällen nicht nötig. Schon auf der bestehenden Infrastruktur wäre vielerorts ein attraktiver Verkehr machbar – wenn sich die Beteiligten engagieren und besser abstimmen würden.“

Mit Crowdfunding auf Reisen

Jon Worth hat für seine Reisen ein Interrail-Ticket gekauft. Mit 730 Euro ist die Fahrkarte, die europaweit zwei Monate gilt, nicht allzu teuer. Doch auch hier zeigt Europa im Detail seine Tücken. Denn in Frankreich, Spanien und Italien sind Reservierungen zu erwerben, die oft ziemlich schwer zu organisieren sind – längst nicht immer ist das im Internet möglich. Zehn Euro pro Fahrt sind nicht ungewöhnlich.

Der Europareisende dankt seinen Unterstützern, die mit Crowdfunding mehrere Tausend Euro für ihn gesammelt haben. Zuletzt erreichte der Kontostand rund 7300 Euro. Das Geld ist da – die Demonstrationsfahrt für einen besseren Bahnverkehr kann beginnen.