28 Jahre ohne Mauer – Gastbeitrag von Gregor Gysi
Die Prophezeiung von Erich Honecker am 19. Januar 1989, dass die Mauer auch in 50 oder 100 Jahren noch stehen würde, hat sich als falsch erwiesen. Ab Dienstag ist sie länger weg, als sie einst gestanden hat und schon zwei Generationen wachsen ohne sie auf. Sie kennen sie aus dem Geschichtsbuch oder von Erzählungen der Älteren, aber wirklich vorstellbar ist es für sie nicht, was es bedeutete, nicht einfach von Berlin nach Berlin fahren zu können.
Man hat nicht oft im Leben Gelegenheit, historische Momente zu erleben. Die Dimension des Mauerfalls, dieses in seinem konkreten Ablauf ja zunächst eher irrtümlichen und zufälligen, aber unausweichlichen Ereignisses wurde wenig später deutlich. Denn alle Überlegungen für eine erneuerte DDR und ein längeres konföderales Nebeneinander der beiden deutschen Staaten, die anfangs die politischen Auseinandersetzungen bis hin zur Großdemonstration am 4. November bestimmten, wurden von der Wirklichkeit überholt.
Dies fand seine Ursache auch darin, dass die Mauer, anders als ihre Erbauer es dachten, von der Mehrheit der DDR-Bevölkerung nie als Bollwerk zu ihrem Schutz, sondern immer als deutliche Einschränkung ihrer Freiheit begriffen worden ist. Zwar hatten die Menschen ihr Leben im Laufe der Jahre mit der Mauer eingerichtet.
Sinnbild für das Scheitern des Staatssozialismus
Doch wer die Freude am 9. November 1989 gesehen und erlebt hat, der weiß, dass aus der Duldung des scheinbar Unabwendbaren nie wirkliche Akzeptanz geworden war. Umso schlimmer finde ich, dass noch heute bei Löhnen, Renten, Arbeitszeiten, Vermögen eine Trennmauer durch das Land geht und die Politik viel zu wenig tut, um diese niederzureißen.
Nichts steht so sehr für das Scheitern des Staatssozialismus, wie der Umstand, dass er die Menschen zum Bleiben zwingen musste. Es mögen sich historisch in der Systemauseinandersetzung des Kalten Krieges und in der damaligen wirtschaftlichen Lage Argumente finden lassen, die eine derartige Trennlinie erklären.
Etwa wenn Ostberliner im Westteil der Stadt für D-Mark arbeiteten und dann mit deutlich mehrfachem Umtausch in DDR-Mark das Lohn- und Warengefüge der DDR vollkommen ad absurdum führten und ohne jede eigene wirtschaftliche Leistung die Subventionen in der DDR für Lebensmittel, Wohnungsmiete, Strom, Gas und Wasser (letzteres in Ostberlin zu DDR-Zeiten gebührenfrei) in Anspruch nahmen. Die Westpolitiker freute dies damals auch noch.
Dass sich die DDR-Führung mit Unterstützung der im Warschauer Vertrag verbundenen staatssozialistischen Länder darauf konzentrierte, die militärische Sicherung der Grenze zu perfektionieren, und die tödlich gegen die eigene Bevölkerung gerichtete Abschottung ideologisch zum antifaschistischen Schutzwall umdefinierte, lässt aber letztlich auch solche, allerdings nicht zu vergessenden historischen Argumente wenig überzeugend klingen, weil man dann wenigstens von Anfang an hätte daran arbeiten müssen, die Mauer so schnell wie möglich wieder zu öffnen und ihre Errichtung zu runden Jahrestagen nicht auch noch hätte feiern dürfen.
Die Hoffnung, dass die DDR nach dem Mauerbau ansonsten offener wird, erfüllte sich nur vorübergehend, so dass wieder Enttäuschung eintrat. Gesellschaften, die Mauern brauchen, um existieren zu können, haben letztlich keinen Bestand.
Das sollten wir allerdings auch bedenken, wenn jetzt wieder neue Mauern – diesmal gegen die da draußen – gebaut werden. Gerade weil wir im Osten leidvolle Erfahrungen damit gemacht haben, wissen wir, dass Mauern keine Alternative sind.