5000 minderjährige Flüchtlinge sind in Deutschland verschwunden
Berlin - Ein Junge aus Syrien verschwindet aus einem Neuköllner Heim. Er ist allein nach Deutschland gekommen, ohne Eltern. So steht es jedenfalls in den Akten. Als der Teenager auch nachts nicht zurückkommt, melden seine Betreuer ihn bei der Polizei als vermisst. Das ist in vielen ähnlichen Fällen dann die letzte Spur, die ein solches Flüchtlingskind in deutschen Behördenakten hinterlässt. Nach 48 Stunden meldet das Heim den Platz wieder als frei bei der zuständigen Verwaltung.
In diesem Fall hat der Junge bei seinen Neuköllner Betreuern immerhin noch mal angerufen. „Er hat gesagt, er sei in München bei Freunden. Wir sollen uns keine Sorgen machen“, sagt Daniela B., die Leiterin der Johanniter-Einrichtung. Die Johanniter betreiben in Berlin drei Heime für Flüchtlingskinder ohne Eltern. Vielleicht ist der Jugendliche tatsächlich in München, vielleicht auch nicht. Niemand wird es nachprüfen.
Der Junge ist einer von knapp 70 000 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die zurzeit in Deutschland leben. 2 800 von ihnen wohnen in Berlin. Sie leben in 30 verschiedenen Einrichtungen über das ganze Stadtgebiet verteilt.
Nach Registrierung verschollen
Das sind diejenigen, die noch da sind. Tausende sind allerdings verschwunden. Viele haben, so wie der Junge, in Heimen gelebt. Manche sind auch gleich nach ihrer Registrierung verschollen. Allerdings nur die leibhaftigen Personen. In den Behördenakten leben sie als Vorgänge weiter fort. Im vergangenen Jahr registrierte das Bundeskriminalamt 8.006 vermisste, geflüchtete Minderjährige, die ohne Eltern in Deutschland eingereist waren. 2.171 tauchten wieder auf. 5.835 blieben verschwunden. Sie sind es bis heute. Die meisten Kinder und Jugendlichen sind in Bayern verloren gegangen. Aber auch in Berlin gab es Fälle. Zurzeit bearbeitet die Berliner Polizei acht offene Fahndungen zu vermissten, unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen. Es sind sieben Jugendliche und ein Kind, das seit dem 14. April als vermisst gilt.
Seit Anfang des Jahres wabert das Thema verschwundene Flüchtlingskinder immer wieder durch die öffentliche Diskussion, zuletzt als Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Grünen im Bundestag. Überraschend ist nach wie vor die Vielzahl der Fälle, hilflos wirkt die Reaktion der zuständigen Behörden. Die Berliner Polizei zum Beispiel teilt mit: „Speziell im Hinblick auf umF (unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge, d.R.) zeigen die hiesigen Erfahrungen fast ausnahmslos, dass die Betroffenen gegenüber Freunden und Angehörigen eine Weiterreise in andere europäische Regionen ankündigten, um dort Kontakt zu Familienmitgliedern zu suchen oder um bessere persönliche Perspektiven zu haben“. Beispielhaft werden zwei Fälle angegeben. Ein Kind sei aufgegriffen worden, als es mit einem entsprechenden Bahnticket auf dem Weg nach Kopenhagen war. Ein Jugendlicher war mit seinem Einverständnis von zwei Verwandten abgeholt worden, um nach Fulda zu reisen, wo andere Familienmitglieder lebten. Das sind Fälle, die man aufklären konnte.
Über den Verbleib der anderen elternlosen Kinder und Jugendlichen bleibt es bei Mutmaßungen. In Einzelfällen sei bekannt, dass sie in andere europäische Länder weiterreisen wollten, sagt auch das Bundesinnenministerium. Das Bundeskriminalamt geht davon aus, dass viele der Vermissten mehrfach erfasst wurden und die reale Zahl viel niedriger sei.