Zwölf Stunden an Heizung gefesselt: 70-Jähriger in Neukölln brutal überfallen - wegen 500 Euro

„Wir brauchen Ihre Hilfe“, sagte jemand: Nichts Böses ahnend öffnete Winfried K. seine Wohnungstür. Dann erlebte er die Hölle.

Die Wohnungstür flog auf, und Winfried K. stürzte in den Flur.
Die Wohnungstür flog auf, und Winfried K. stürzte in den Flur.imago

Wenn es an der Tür von Winfried K. klopft, zuckt er zusammen. Das liegt an der Nacht vom 3. zum 4. Oktober vergangenen Jahres. Da war er zwölf Stunden lang in seiner Wohnung an eine Heizung gefesselt.

Der inzwischen 71-Jährige, der im Neuköllner Schillerkiez wohnt, erzählt von diesem Sonntagabend: Gegen 20 Uhr klopft es an seiner Wohnungstür. „Wir brauchen Ihre Hilfe“, sagt jemand. Er denkt, es sei ein Mieter. Seit 24 Jahren wohnt er hier und ist Hauswart. Er ist für vierzig Wohnungen zuständig. Er hilft, wo er kann, kennt jede Ecke im Haus. Bei den Bewohnern hat er einen guten Stand.

Nichts Böses ahnend öffnet er die Tür seiner Erdgeschosswohnung. Die Tür wird aufgestoßen. Er stürzt rückwärts in den Flur. Zwei Männer stürmen herein. Bevor er etwas sagen kann, hat er eine Kette um den Hals und wird daran hochgezogen. „Wir wollen dein Geld haben“, sagt einer.

„Ich hab’ kein Geld“, sagt Winfried K. Die Kette wird zugezogen. Er hat Todesangst. Verrät, wo er sein Geld versteckt hat. Im Schrank im Wohnzimmer in einer Holzschachtel. Es sind 500 Euro.

Serie: die vergessenen fälle
Raub, Körperverletzung, Einbruch oder sexuelle Übergriffe: Etwa 70.000 Gewalttaten registriert die Berliner Polizei in jedem Jahr. Aufmerksamkeit erregen meist nur spektakuläre Kriminalfälle, viele „kleine“ Fälle sind allenfalls eine Kurzmeldung im Polizeibericht. Doch wie geht es den Betroffenen alltäglicher Kriminalität? Die Berliner Zeitung am Wochenende hat mit Menschen gesprochen, die ihr unter anderem von der Opferhilfeorganisation Weißer Ring vermittelt wurden. Die Serie: Die vergessenen Fälle.

Der jüngere der beiden Männer geht in das Zimmer und holt das Geld aus dem Versteck. Der ältere zieht ihn ins Badezimmer. „Lass ihn doch in Ruhe“, sagt der Jüngere. „Wir haben doch alles, was wir wollen.“ Der Ältere zieht die Kette noch enger, stößt den Rentner auf den Boden, schlingt die Kette um das Zuleitungsrohr des Heizkörpers.

Der Mann schließt die Badezimmertür. Winfried K. bewegt sich nicht, schreit nicht. Eine halbe Stunde lang. Es herrscht Totenstille. Er ist erstarrt, hat Angst, dass die Eindringlinge noch in der Wohnung sind. Das Rohr ist heiß, er verbrennt sich an Kopf und Nacken. Irgendwann regt er sich. Er versucht, die Kette zu lösen und merkt, dass ihre dicken Glieder mit einem Vorhängeschloss verbunden sind. Er versucht mit der Hand, an das Ventil zu gelangen, um die Heizung abzudrehen. Es ist zu weit weg.

Die Tür ist aus dickem Holz. Niemand hört sein Schreien

Er kann nichts tun. Um sich nicht zu verbrennen, zieht er sich den Badezimmerläufer heran, schiebt ihn zwischen seinen Nacken und das heiße Heizungsrohr. Er schreit um Hilfe. Horcht, ob jemand im Hausflur die Treppe hochgeht. Doch die Badtür ist aus vier Zentimeter dickem, massivem Holz. Sie ist schalldicht. Und da ist noch die Wohnungstür. Winfried K., erlernter Beruf Sanitärrohrleger, war immer ein guter Handwerker. Vor einiger Zeit hat er die Wohnungstür mit Holzplatten verstärkt. Niemand im Hausflur draußen würde seine Hilfeschreie hören.

Vor morgen früh findet dich niemand, der dich befreien kann, denkt er. Der Pflegedienst von der Diakonie, der täglich um acht Uhr kommt, hat einen Schlüssel. Denn der Rentner ist schwer krank.

Im Jahr 2005 ist seine Frau gestorben. Seitdem verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Er bekam epileptische Anfälle. Weil er dann auch noch „einigen Verpflichtungen“ nicht nachkam, wie er sagt, stellte ihm das Bezirksamt einen Betreuer an die Seite. Seine Tochter war schon vor dem Tod seiner Frau aus der Wohnung ausgezogen. Die 80 Quadratmeter sind jetzt viel zu groß. Er wird bald in eine Einrichtung für betreutes Wohnen ziehen.

Jetzt liegt er hier in dem schmalen Bad auf dem Steinfußboden. Je mehr er sich bewegt, desto stärker schmerzen seine Knochen.

Zwischendurch denkt er: Warum gerade ich? Seit 24 Jahren wohnt er hier. Nie ist in dem Haus etwas Kriminelles passiert. Nicht im Hinterhaus, nicht im Vorderhaus. Der Eigentümer legt Wert auf eine gute Mieterschaft, die auch selbst aufeinander achtet. Früher wohnten hier viele ältere Leute, die inzwischen gestorben sind – einige einsam in ihren Wohnungen. Er fand die Toten, weil er sie mehrere Tage nicht gesehen hatte. Vor allem in den vergangenen Jahren zogen viele junge Leute ein. Der Schillerkiez ist hip geworden und vor allem teuer für Neu-Mieter. Aber die Leute hier haben Vertrauen zu ihm. Viele lassen ihre Schlüssel bei ihm, die er im Flur an ein Brett hängt, auf dem die Namen der Bewohner stehen.

Ein Polizist steht mit gezogener Waffe da

Das Schreien nach Hilfe hat er inzwischen aufgegeben. Immer wieder dämmert er weg. Oder verliert das Bewusstsein, er weiß es nicht mehr genau.

Am nächsten Morgen, nach zwölf Stunden, hört er es klingeln. So laut er kann ruft er: „Ich kann nicht rauskommen! Ich bin gefesselt! Ihr müsst durchs Fenster kommen!“ Doch die Frau von der Diakonie, die an dem Tag doch keinen Schlüssel dabei hat, hört ihn wahrscheinlich nicht. Sie ruft auf seinem Handy an, das im Flur liegt. Als niemand abnimmt, ruft die Frau die Polizei an.

An diesen Heizkörper war Winfried K. zwölf Stunden lang mit einer Kette gefesselt.
An diesen Heizkörper war Winfried K. zwölf Stunden lang mit einer Kette gefesselt.Andreas Kopietz

Das kleine Speisekammerfenster lässt sich von außen leicht aufdrücken. Das Geschirr auf der Fensterbank kracht herunter. Ein Polizist zwängt sich durch das Fenster und steht in der Küche. Er ruft Winfried K.s Namen. „Ich bin hier im Badezimmer!“ Die Badtür geht auf, und der Beamte steht mit gezogener Waffe da. Er wusste ja bis eben nicht, wem er begegnen würde.

Auf der Straße vor dem Haus ist inzwischen ein Großaufgebot an Polizei- und Feuerwehrautos zusammengezogen. Ein Feuerwehrmann macht sich nun im Bad mit einem Bolzenschneider ans Werk. Er hat Mühe, die Kette oder den Bügel des Vorhängeschlosses durchzuknipsen. Jede Bewegung schmerzt Winfried K.

Die Täter haben keine Schränke durchwühlt

Der Notarzt misst seinen Blutdruck, will ihn mit ins Krankenhaus nehmen. Doch der Rentner lehnt ab. Er will nur etwas zu trinken. In der Küche fragen ihn die Kripo-Beamten, wie die Täter ausgesehen haben. Aber er kann ihnen keine Beschreibung geben. Er weiß nur, dass sie deutsch sprachen, ohne jeden Akzent.

Seitdem rätselt Winfried K. Die Täter hatten keine Schränke durchsucht, nichts durchwühlt. Sie waren nur auf das Geld aus. Sie müssen also gewusst haben, dass er 500 Euro hatte.

Zwei Tage vorher hatte ihm sein Betreuer sein Wirtschaftsgeld, 450 Euro, gebracht. Am Sonnabend war er einkaufen und hatte noch 420 Euro. Außerdem lagen im Wohnzimmerschrank noch 80 Euro, um einen Gartenpavillon für die Mieter-Sitzecke draußen zu kaufen.

„Das muss lange vorbereitet gewesen sein“, sagt er. „Mein Betreuer bringt mir immer zur selben Zeit mein Geld. Wenn man hier so lange wohnt, dann spricht man mit den Leuten über dies und jenes, dann kommen beiläufig auch finanzielle Sachen zur Sprache, zum Beispiel, wenn gerade der Betreuer kommt und mir mein Geld bringt. Man denkt ja nichts Böses dabei. Und vielleicht hat jemand diese Information an die Täter weitergegeben.“

Nur mit einer Frau hatte er immer wieder Ärger

Die Täter wurden bis heute nicht gefasst. Winfried K. vermutet, dass jemand aus dem Haus das Wissen, wann der Betreuer kommt, weiter gab an die Leute, die dann den Überfall verübten.

Winfried K. ist ein schmaler, magerer Mann. Beim Sprechen verknoten sich seine Hände immer wieder. Er ist nervös. Seit zwanzig Jahren ist er Invalidenrentner und verdient sich als Hausmeister etwas dazu. Er braucht dafür auch nicht so viel Miete zu zahlen. Den Hof hat er für die Mieter in einen Garten umgestaltet. Er pflanzte Büsche, legte einen Teich an, richtete eine Sitzecke für alle ein. Er sagt, dass er sich mit allen Mietern eigentlich gut versteht.

Nur mit einer Frau in der Wohnung über ihm hatte er immer wieder Ärger. Sie habe Wasser durch die Decke laufen lassen und ihn einmal mit Schnapsflaschen beworfen. Sie habe ihn geschlagen. Er erstattete Anzeige wegen Körperverletzung. Im Erdgeschoss habe sie eine Fensterscheibe bei zwei Studentinnen eingeschlagen und dann auch noch im Hauseingang Feuer gelegt. Verschiedene Männer hätten bei ihr gewohnt. 2020 hat der Vermieter sie rausgeworfen.

„Sie hat mit hundertprozentiger Sicherheit genau über meinen Lebensablauf Bescheid gewusst. Ich vermute, dass sie das weitergegeben hat an den Personenkreis, mit dem sie zu tun hatte. Aber das ist schwer zu beweisen.“

Die Täter drohen: „Wir kennen dich, aber du kennst uns nicht“

Die Opferhilfe-Organisation Weißer Ring hat ihm das geraubte Geld ersetzt. Sie bot ihm auch psychotherapeutische Hilfe an. Aber er wollte nicht. Er wollte nur seine Ruhe haben und darüber nachdenken, ob er vielleicht doch auf die Täter kommt.

Die Polizei machte einen Aushang im Haus mit der Information, dass hier ein Raubüberfall stattgefunden hat. Zeugen mögen sich melden. Nach einem Dreivierteljahr bekam er von der Kripo den Bescheid, dass das Verfahren wegen schweren Raubes erst einmal ruht, bis es neue Ermittlungsansätze gibt.

Durch die massive Badezimmertür drangen seine Schreie nicht.
Durch die massive Badezimmertür drangen seine Schreie nicht.Andreas Kopietz

Winfried K. spricht mit den Nachbarn nicht über den Überfall. Denn er hat Angst, dass jemand von ihnen das an die Täter weitergibt. Denn der ältere der beiden hatte, bevor er die Badtür schloss, gedroht: „Wenn du was unternimmst und mit der Polizei redest, dann kommen wir wieder. Wir kennen dich, aber du kennst uns nicht.“

Er hat also dichtgehalten und ist deshalb die erste Zeit auch nicht vor die Tür gegangen. Jedes Geräusch mache ihn nervös. Nachts verzieht er sich zum Schlafen in das hinterste Zimmer seiner großen Wohnung, das er früher selten benutzte. Wenn es mal an der Wohnungstür klopft, reagiert er meistens nicht. Und wenn, dann muss der Mieter ihm genau sagen, wer er ist. Nur der Name reicht ihm nicht.

„Was ist los mit mir? Bin ich bescheuert?“

Man kann nicht sagen, dass sich sein Leben normalisiert hat. Er muss immer wieder daran denken, träumt immer wieder, wie er nach dem Sturz im Flur davonkriechen wollte und fragt sich dann: Was ist los mit mir? Bin ich bescheuert?

Damit er aus seiner Gedankenspirale raus kommt, wird der Weiße Ring demnächst die Kosten für ein paar Tage Erholungsurlaub in Mecklenburg-Vorpommern übernehmen. Vielleicht hilft das.

Und auch Winfried K. versucht, positiv zu denken: Es sein ein brutaler Überfall gewesen, sagt er. „Aber im Großen und Ganzen kann ich immer noch sagen: Es hätte schlimmer kommen können. Denn was man heute so liest, da werden Leute überfallen, weil man annimmt, die haben viel Geld. Und dann werden die Leute so verletzt, dass sie verbluten oder gleich sterben.“

In der Serie „Die vergessenen Fälle“ ist bisher erschienen: