9-Euro-Ticket: Was Qualitätstester in Regionalzügen und Bahnhöfen erleben
Der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg zieht nach drei Wochenenden eine erste Bilanz. Ein Wunsch vieler Fahrgäste lässt sich nicht erfüllen, heißt es.

Manchmal sollte man schon mit den grundlegenden Dingen zufrieden sein. „Nach unseren Feststellungen im Bahnhof Gesundbrunnen und im Hauptbahnhof kamen alle Fahrgäste mit.“ Diese Bilanz zieht Patrick Schardien, der oberste Qualitätstester beim Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB), für das dritte Wochenende mit dem 9-Euro-Ticket. Niemand habe in Berlin auf seine Reise verzichten müssen, weil Regionalzüge zu voll waren. Doch es gibt eine wichtige Einschränkung.
Bislang war der Regionalverkehr ein Randthema, nun diskutiert ganz Deutschland über ihn. Und auch die Medien berichten mehr als früher. Meist sind überfüllte Züge und genervte Fahrgäste zu sehen, von Chaos ist die Rede. Aber ist dies schon das ganze Bild?
Patrick Schardien und seine Leute können dazu einiges sagen. Schon deshalb, weil sie privat viel auf den Schienen unterwegs sind. Als Reisende, im Fall von Schardien aber auch als Straßenbahnfahrer: Auf der Linie 89, der Strausberger Eisenbahn östlich von Berlin, sitzt der 40-Jährige an zwei oder drei Wochenenden im Monat nebenberuflich im Führerstand. Die Qualitätstester gewinnen aber vor allem beruflich Einblicke – in diesem Fall in den Regionalzugverkehr in Berlin und Brandenburg.
Im Fokus: Die Regionalzüge von Berlin nach Stralsund und Rostock
Das Team besteht aus rund zehn Studierenden, deren Fächer mit Verkehr zu tun haben. Gegen Honorar fahren sie Zug und sehen sich auf Bahnhöfen um. Wie sauber ist es? Sind die Züge so lang wie vereinbart? Funktionieren die Ticketautomaten?
Bei einem Teil der Fahrten ermitteln die Tester auch die Pünktlichkeit. Wenn sie Qualitätsmängel feststellen, können die Zugbetreiber dies zu spüren bekommen. Wie viel Geld ihnen laut Vertrag abgezogen wird, teilt der Verbund nicht mit. Nach Informationen der Berliner Zeitung wird etwa für eine defekte Zugtoilette eine Pönale (Strafzahlung) von 100 Euro fällig. Ist kein Zugbegleitpersonal für die Fahrgäste sichtbar, kostet das 1,50 Euro pro Kilometer.
„Täglich sind ein oder zwei Qualitätstester im Regionalverkehr unterwegs“, so Schardien. „Wir gehen davon aus, dass die Zahl der Kontrollfahrten in diesem Jahr die 5000er-Marke überschreitet“ – das wären dann mehr als dreimal so viele wie zu Beginn vor neun Jahren. Die Honorarkräfte haben Tablets dabei. So kommen außer Berichten auch rund 100.000 Bilder jährlich zusammen. „Natürlich datenschutzkonform nur für interne Kontrollzwecke, nicht zur Veröffentlichung“, heißt es.
Die Einführung des 9-Euro-Tickets hat dem Qualitätsteam über das reguläre Pensum hinaus zusätzliche Arbeit beschert. Seit Anfang Juni stehen Tester an allen Wochenendtagen zwischen 8.30 und 13 Uhr im Bahnhof Gesundbrunnen auf dem Bahnsteig, an dem die Regionalexpresszüge nach Stralsund und Rostock abfahren, so Schardien. Die Linien RE3 und RE5 an die Ostsee quollen schon vor Einführung des bundesweiten Sonderangebots bei schönem Wetter über, das 9-Euro-Ticket hat den Andrang noch einmal erhöht. In Berlin ist das Gedränge morgens und vormittags groß.
Wann immer sich ein Zug ankündigt, zücken die Qualitätstester ihre Tablets und fotografieren. Die Aufnahmen, die ebenfalls nur für die interne Auswertung gedacht sind, zeigen den Bahnsteig kurz vor Einfahrt des Zuges, beim Ein- und Aussteigen der Fahrgäste sowie kurz nach der Abfahrt. Die Bilder belegen laut Schardien: Bisher musste niemand seinen Plan zu verreisen aufgeben.
Mehr Fahrgäste auch im Oderbruch und in den Spreewald
Wenn Reisende allerdings ein Fahrrad dabeihatten, sah das wie schon an den anderen Juni-Wochenenden zum Teil anders aus. „Einige Reisende mit Fahrrad mussten auf dem Bahnsteig zurückbleiben“, so die Bilanz. Am Sonnabend gab es sogar eine „Teilräumung“ im Regionalexpress um 9.39 Uhr nach Schwedt: „Fahrgäste, deren Fahrräder den Eingangsbereich eines Wagens versperrten, wurden von den Einsatzkräften von DB Sicherheit aufgefordert, wieder auszusteigen.“
Im Hauptbahnhof sind ebenfalls Qualitätstester präsent. Dort geht es um die Züge der Linien RE1 und RE7, denen das 9-Euro-Ticket ebenfalls mehr Fahrgäste beschert. Wie sieht die Lage woanders aus? Früher war auf den Routen nach Süd-Brandenburg meist wenig los, weiß Patrick Schardien. Doch nun seien selbst auf den Südabschnitten der Linien RE3 und RE5 die Züge voller geworden. Das gilt auch für einige Regionalbahnlinien, etwa die RB60. Sie verläuft am Rande des Oderbruchs, wo Radrouten viele Ausflügler anlocken. Die RB24 in den Spreewald werde ebenfalls stärker genutzt.
Der verstärkte Andrang durch das 9-Euro-Ticket rückt Strecken ins Blickfeld, die bereits vorher überlastet waren. Schardien nennt als Beispiel die Linie RB26, die von Berlin in Richtung Kostrzyn (Küstrin) nach Osten verläuft. Die Kapazität der Dieseltriebwagen war schon früher an Wochenenden erschöpft. Auf der Linie RB27, die als Heidekrautbahn von Berlin nach Wandlitz und in die Schorfheide führt, habe sich die Fahrgastzahl zum Teil verdoppelt.
Die Qualitätstester sammeln Daten über Daten. Aber was folgt daraus? Bisherige Erkenntnisse ließen bereits ahnen, dass beliebte Strecken noch größere Fahrgastzahlen verkraften müssen. Deshalb werden im Hauptbahnhof und am Gesundbrunnen auf Bestellung des Verbunds DB-Mitarbeiter eingesetzt, die auf den Bahnsteigen die Fahrgäste lenken sollen. Außerdem wurden in Abstimmung mit den Ländern zusätzliche Zugfahrten in Richtung Ostsee bestellt. Selbst Mecklenburg-Vorpommern, bislang sehr zurückhaltend, machte mit.
Viele Fahrgäste wünschen sich noch mehr Fahrten. „Doch mehr Züge sind nicht möglich“, sagt Schardien bedauernd. „Die Unternehmen sind am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt. Für weitere Fahrten fehlt schlicht und einfach das Wagenmaterial.“ Zwar sehe die Ausschreibung auf den Nord-Süd-Linien zur Ostsee einen dichteren Fahrplan vor. Aber der neue Verkehrsvertrag trete nicht vor Ende 2026 in Kraft – es dauert also noch.
Ein guter Rat: „Vermeiden Sie die Fahrradmitnahme“
Wäre ein Fahrradverbot, wie es der Zugbetreiber Metronom in Norddeutschland eingeführt hat, in Berlin und Brandenburg sinnvoll? „Wir wollen kein Pauschalverbot“, sagt der oberste Qualitätstester. Zum einen seien nur wenige Züge überlastet, in den meisten sei genug Platz. Zum anderen sei es für viele Fahrgäste wichtig, dass sie ihr Rad im Zug mitnehmen dürfen – nicht nur für Ausflügler, auch für Pendler. Auf dem Land, wo wenige Busse fahren, werde das Fahrrad für die letzten Kilometer gebraucht.
Allerdings müssen Radtouristen auch künftig damit rechnen, dass sie nicht mitkommen, weil die Mehrzweckabteile schon voll sind. Die Situation in Regionalzügen, die am Wochenende morgens und vormittags Berlin verlassen und abends dorthin zurückkehren, bleibt angespannt.
Schon jetzt weist der Verbund in seiner Internetauskunft bei einigen Fahrten darauf hin, dass eine Fahrradmitnahme „nicht garantiert“ werden kann. Bald soll die Warnung noch eindeutiger ausfallen, kündigt Patrick Schardien an. Dann soll es heißen: „Vermeiden Sie die Fahrradmitnahme“.
Ja, viele Züge sind ziemlich voll, und manche Fahrgäste empfinden die Reise als unangenehm. Weil das Ein- und Aussteigen oft länger dauert, werden zudem am Wochenende nur noch rund 80 Prozent der Regionalzugfahrten als pünktlich registriert, so der Verbund. Vor Einführung des 9-Euro-Tickets waren es mehr als 90 Prozent. Kurzfristige Krankmeldungen des Bahnpersonals, am vergangenen Wochenende unter anderem auf der RB55 und dem RE7 Süd, werfen Reisepläne über den Haufen.
Doch von Chaos will man beim Verkehrsverbund nicht sprechen. „Wir beobachten, dass sich eine zunehmende Zahl von Fahrgästen auf die Situation einstellt und verstärkt auf andere Züge oder andere Verbindungen ausweicht“, berichtet der Chef des Qualitätsmanagements. „So gesehen hat das 9-Euro-Ticket einen Lernprozess in Gang gesetzt. Die Fahrgäste sind lernfähig.“
Zwischen Hamburg und Sylt ist mehr Stress
„Im Vergleich zu anderen Regionen Deutschlands läuft der Betrieb in Berlin und Brandenburg immer noch ziemlich gut“, sagt Patrick Schardien zusammenfassend. „Das liegt auch daran, dass es von Berlin aus ein größeres Angebot und damit mehr Auswahl gibt.“ Anderswo, zum Beispiel zwischen Hamburg und der Nordseeinsel Sylt, wo sich der Andrang stärker konzentriert, sehe es schlechter aus. Auch ein Fazit.