Agnes ist 102, Amir 28 Jahre alt: Sie haben in Berlin eine WG gegründet
Agnes ist eine ältere Dame, die Hilfe braucht. Amir ist ein junger Mann, der aus dem Iran floh. Seit einem Jahr wohnen sie zusammen und helfen sich gegenseitig.

Berlin-Anfang und Ende sind in dieser zeitlos schönen Schwimmhalle nah beieinander. Ein reiner Zufall. Ein junger Vater mit gestutztem Vollbart läuft in schwarzen Badelatschen durch das Stadtbad Schöneberg, an der Hand seine Tochter. Die ist noch so klein, dass sie ihm nicht mal bis zur Hüfte reicht. Sie trägt einen dunkelgrünen Schwimmanzug, weiße Spangen im Haar und große Schwimmkissen an den Armen. Ein Mädchen – am Anfang des Lebens. Ein Kind, das sich nicht allein ins Wasser traut, aber vom Vater beschützt wird.
Am anderen Ende der Halle kommt Agnes Jeschke aus den Umkleideräumen. Sie trägt einen modernen, sportlichen Badeanzug in Schwarz und setzt sich in einen Rollstuhl. Agnes – eine Frau am Ende ihres Lebens, sie ist nicht mehr so fit, geht gebeugt. Auch ihr wird geholfen: Amir Farahani schiebt den Rollstuhl. Als er sie fragt, wann sie das letzte Mal Schwimmen war, überlegt sie eine Weile und sagt: „Das war irgendwann vor dem Krieg.“ Sie meint den Zweiten Weltkrieg.
73 Jahre Altersunterschied zwischen Agnes und Amir
Agnes Jeschke ist 102 Jahre alt. Amir Farahani ist 28. Ein ungewöhnliches Paar, diese alte Dame und ihr Betreuer, der sogar bei ihr wohnt. Die beiden trennen 73 Jahre gelebtes Leben. Rein rechnerisch könnte er ihr Urenkel sein.
Agnes Jeschke wurde 1920 in Sachsen geboren. Das Jahr, in dem die Pandemie der Spanischen Grippe endete. Das Jahr, in dem der Friedensvertrag von Versailles den Ersten Weltkrieg offiziell beendete. Das Jahr, in dem in Deutschland die erste Jazz-Schallplatte verkauft wurde.
Amir Farahani wurde 1993 im Iran geboren. Das Jahr, in dem dort zwei Flugzeuge kollidierten und 132 Menschen starben. Das Jahr, in dem der Maastricht-Vertrag in Kraft trat und das World Wide Web freigegeben wurde.

Im Schwimmband sitzt das kleine Mädchen im dunkelgrünen Schwimmanzug bereits mit dem Vater im Solebecken, als Amir den Arm von Agnes hält und sie ins Becken führt. Farahani kam vor zwei Jahren aus dem Iran nach Deutschland. Der Grund für seine Flucht: Homosexuellen droht in der Islamischen Republik die Todesstrafe. Seit etwas mehr als einem Jahr lebt er bei Agnes Jeschke, in deren Drei-Zimmer-Wohnung in Mariendorf. Er lebt dort kostenlos, als Gegenleistung hilft er ihr im Alltag. Vor allem morgens und abends. Tagsüber macht er eine Ausbildung zum Alten- und Krankenpfleger.
Er scherzt gern, sie lacht gern
„Wir verstehen uns wie zwei linke Latschen“, sagt er im 33 Grad warmen Solebecken. Er lächelt Agnes an und erzählt, er habe den Berliner Humor von ihr gelernt. „Ich liebe Sprüche wie: Ich verstehe Bahnhof.“ Agnes nickt: „Sein gutes Deutsch lernt er von mir.“ Dann lehnt sie sich zurück: „Das ist schön hier. Ich bleibe hier sitzen, aber ich pullere nicht ins Becken.“ Sie lacht.
Sie liegen nebeneinander im warmen Wasser und Amir Farahani erzählt, warum das Baden wichtig ist. Agnes Jeschke war im Krankenhaus und braucht Bewegung. „Im Wasser können wir leichter trainieren“, sagt er. „Ich kenne mich aus, im Iran habe ich Sportmedizin studiert.“ Er schaut zu ihr: „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal mit einer Frau im Schwimmbad bin. Im Iran ist das gemeinsame Baden verboten.“

Die Geschichte von Amir und Agnes ist ungewöhnlich. Dass er, der sie betreut, Ausländer und Flüchtling ist, ist nicht so ungewöhnlich. In der Pflege gibt es einen offiziellen Bereich in den Altenheimen und Krankenhäusern sowie einen „Graubereich“ in Wohnungen. Im offiziellen Bereich kommt jede achte Pflegekraft aus dem Ausland. Die Zahl wächst: Unter den 1,5 Millionen Pflegekräften sind derzeit 208.000 aus dem Ausland. Dreimal mehr als 2013. So wie Amir stammen 15.000 Pflegekräfte aus Asyl-Staaten. Viele kamen nach 2015 als Flüchtlinge. Sie werden gebraucht. Die Bundesagentur für Arbeit konstatiert einen „deutlichen Fachkräfteengpass“: Es gibt dreimal mehr offene Stellen als arbeitslose Fachkräfte.
Und das sind nur die offiziellen Zahlen für die Heime. Dazu kommt der „Graue Markt“ der 24-Stunden-Pflegekräfte in privaten Haushalten. Die Schader-Stiftung schätzt, dass bis zu 400.000 Menschen – vor allem Osteuropäerinnen – in deutschen Haushalten ältere Menschen pflegen. Oft illegal. Bei Amir Farahani ist alles legal.
Im Schwimmband legt er die alte Dame nun auf ein paar Schwimmnudeln aus Kunststoff, damit sie im Wasser schweben kann. Anfangs schaut sie ängstlich: „Amir, geh nicht weg.“ Er sagt: „Ich lasse dich nicht allein.“ Er hilft ihr. Und es ist zu erkennen, dass er sich auskennt, dass er jede ihrer Bewegungen vorausdenkt und mit einer Hand bereit ist, ihr zu helfen. „So“, sagt er, „jetzt kannst du Fahrrad fahren im Wasser.“ Die alte Frau bewegt ihre Beine und lacht.
Auch eine Notgemeinschaft zweier einsamer Menschen
Die Geschichte von Amir und Agnes hat etwas Rührendes. Eine sehr alte Frau, die Hilfe benötigt, und ein junger, sportlicher Mann. Für manche klingt es befremdlich, dass er bei ihr wohnt. Aber da haben sich zwei einsame Menschen in einer Art Notgemeinschaft zusammengetan, haben sich kennengelernt und mögen sich durchaus. Das ist angenehm, besser als eine reine Arbeitsbeziehung. Eine klassische Win-win-Situation. „Ich bin ohne Familie hergekommen“, erzählt Amir Farahani. „Ich suchte damals eine Wohnung. Die habe ich jetzt und auch eine Aufgabe. Wenn Menschen wie Agnes Zuwendung bekommen, bleiben sie jung.“
Der offizielle Pflegedienst kommt jeden Tag zu ihr. Amir Farahani sorgt für Abwechslung. Sie gehen spazieren, kochen gemeinsam, er hat sie in eine Shisha-Bar geführt, sie waren tanzen. „Agnes schaukelt gern“, erzählt Amir. Er habe einen Spielplatz gefunden, wo sie beide nebeneinandersitzen und durch die Luft fliegen können. Er schaut zu ihr und sagt: „Hast du Hunger? Ich habe Pudding für dich.“ Sie schüttelt den Kopf, da sagt er: „Für eine Prinzessin ist alles da.“ Sie lacht.

Das Ganze ist nicht nur die Geschichte von Agnes und Amir, sondern auch die von Uwe Eberlein, 66 Jahre alt, ein Hüne mit Glatze und kölschem Dialekt. Er wartet in seinem Haus in Pankow. „Ich musste der alten Frau einfach helfen“, sagt Eberlein, studierter Theaterwissenschaftler und Philosoph. Der damalige offizielle Betreuer von Agnes Jeschke habe die Frau in ein Altersheim bringen wollen. „Gegen ihren Willen. Sie wollte unbedingt in ihrer Wohnung bleiben. Sie wäre im Heim doch nur dahinvegetiert.“
Die Wut auf den Betreuer im Speziellen und die Zustände der Betreuung von alten Menschen im Allgemeinen ist in Eberleins Stimme zu hören. Er ist durch Zufall und Glück in den 90er-Jahren vom Mieter zum Besitzer dieses Hauses geworden. 100 Jahre alt, drei Etagen, acht Wohnungen. Eine Mischung aus hübsch saniert und noch rumpelig. Da er nicht reich ist, saniert er es Stück für Stück. Im Hausflur hängt am Aushangbrett eine Postkarte, eine Art Lebensmotto von Eberlein. Mit weißer Kreide steht dort: „Sollte, hätte, würde, könnte“. Diese Worte sind durchgestrichen, darunter steht: „Los geht’s.“
Amir und Agnes als Ideengeber
Eberlein verdient sein Geld als Tagungsmanager bei der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsvorsorge, eine der ersten dieser Art, 1968 von seiner Mutter gegründet, einer Medizinerin. „Damals gingen die Leute nur zum Arzt, wenn sie krank waren“, erzählt er. Der Gedanke der Vorsorge war kaum verbreitet.
Agnes Jeschke kannte er über seinen Bruder, der Arzt ist. „In dieser Funktion begleitet er Reisen von alten oder kranken Leuten, damit die sich sicherer fühlen.“ Auch Agnes Jeschke sei schon vor vielen Jahren so nach Indien, Ceylon, Marokko und Tunesien gereist. „Mein Bruder lebt auf Sylt, aber sie hat ihn zu einer Art Privatarzt ernannt“, erzählt er. „Immer, wenn der in Berlin war, besuchte er sie.“ So erfuhren sie, dass sie gegen ihren Willen ins Heim sollte. „Ich informierte ein paar Pressefotografen, damit sie diesen Akt des Zwangs festhalten.“ Daraufhin habe der Betreuer die Sache aufgegeben. Eberlein suchte mit einer Anzeige im Internet nach einer Betreuerin – Motto: „Kostenloses Wohnen gegen Gesellschaft leisten“.
Es meldeten sich 22 Frauen. „Dann rief mich Amir an und frage: Warum nur Frauen? Ich kann das auch.“ Eberlein ging dann mit einigen Bewerberinnen zu Agnes Jeschke. „Doch als sie Amir sah, waren ihre Lebensgeister geweckt. Sie rückte ihm einen Stuhl zurecht und wollte ihm einen Kaffee machen. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen.“
Eberlein steigt die Treppe hinauf, vorbei an den Graffitis aus den 90er-Jahren, als das Haus noch besetzt war. Er geht in eine Wohnung mit einer schönen Küche, bestimmt 40 Quadratmeter groß. Er wirft seinen schwarzen Hut auf den Tisch. Dann sagt er: „Weil es bei Amir und Agnes so gut läuft, bin ich auf eine Idee gekommen: nicht nur ein Mikrokosmos mit zwei Personen in einer Wohnung, sondern eine große Jung-Alt-WG.“ Er führt durch die Zimmer in der Etage. Groß und luftig sind sie. Es gibt zwei Bäder. Platz ist genug.
Studieren und helfen
Er erzählt, dass die Situation für Amir Farahani durchaus auch hart ist, weil er allein verantwortlich sei und quasi ständig dort sein müsse. „Hier könnten drei alte Menschen und fünf junge in einer WG wohnen“, sagt er. Idealerweise wären die jungen Leute Studierende aus dem medizinischen oder sozialen Bereich, die gern helfen, wenn sie keine Miete zahlen müssen. Sie könnten die Aufgaben unter sich aufteilen. „Mehrere Schultern können mehr tragen“, sagt Eberlein und geht zurück in die Küche. Dort steht ein großer Flügel, seine Finger wandern über die Tasten und spielen eine kleine schiefe Melodie. „Und hier in der großen Küche gibt es dann Minikonzerte“, sagt er.
Er weiß, dass die Sache kaum zu schaffen ist. Er selbst hat das Haus noch längst nicht abbezahlt und keine finanziellen Reserven. Ein Fahrstuhl wäre nötig, die WG-Zimmer müssten altersgerecht umgebaut werden. Das kostet eine Menge Geld, aber Eberlein glaubt an seine Idee – wegen des guten Beispiels von Amir und Agnes.
Nun gründet er einen gemeinnützigen Verein, er hat auch schon beim Senat nachgefragt. „Ich soll ein Konzept erarbeiten und vorstellen“, sagt er. Ohne Fördermittel und Spenden gehe es nicht. Und ganz sicher wird es auch ein harter bürokratischer Kampf. „Wir wollen eine soziale Alternative zum Altersheim etablieren.“ Die Pflegekosten sollten auch von den Kassen übernommen werden. „So wie beim Altersheim“, sagt er. „Aber bei uns würde es nur die Hälfte kosten.“
Zum Abschied geht es hinauf aufs Dach mit einer Terrasse und einem weiten Blick über die Dächer Berlins bis zum Fernsehturm. „Ich weiß, es ist sehr viel Arbeit, und es ist bislang nur ein Traum“, sagt Eberlein. „Aber es ist eine gute Idee.“
Was passiert nach dem Tod?
Im Schwimmbad Schöneberg sind Amir und Agnes nach ihrem kleinen Training nun beim Unterhaltungsteil angekommen. Er geleitet sie aus dem warmen Solebecken, legt ihr das Handtuch über die Schulter und setzt sie in ihren Rollstuhl. Dann geht er auf das Ein-Meter-Brett und macht einen eleganten Kopfsprung. Agnes klatscht Beifall und jubelt: „Sehr schön, sehr schön.“ Er schwimmt eine Bahn Schmetterling, kraftvoll und elegant. Dann krault er zu Agnes und sagt: „So, ich verschwinde.“ Als er abtaucht, ruft sie: „Komm wieder.“ Er macht noch einen Kopfsprung, dann schiebt er sie im Rollstuhl zur Umkleidekabine: „So, jetzt gehen wir nach Hause.“
Jedes Leben ist endlich, auch das von Agnes Jeschke. Irgendwann ist die gemeinsame Zeit vorbei. Und dann? Ein paar Antworten darauf hat Uwe Eberlein. Und er hat einen kleinen Zusatztraum zu seinem Traum von der Jung-Alt-WG. „Wenn Agnes stirbt, kann Amir nicht mehr in der Wohnung bleiben“, sagt er. Amir sei dann hoffentlich mit seiner Ausbildung zur Pflegekraft fertig und werde nicht in den Iran abgeschoben. Er werde nämlich gebraucht. „Und vielleicht klappt es ja mit unserer Jung-Alt-WG. Dann wäre Amir hier als unser Pionier natürlich willkommen.“
Im Fernsehen: Im Reportage-Magazin „Arte Re:“ kommt am 17. Mai um 19.40 Uhr ein halbstündiger Film über Agnes und Amir.