Anita Lasker-Wallfisch besucht noch einmal Berlin: Die Botschaft der Holocaust-Überlebenden
Die 97-Jährige, die Auschwitz überlebte, gehört zu den letzten Zeitzeugen des Holocaust. In Berlin tritt sie noch einmal mit Tochter Maya auf. Ein Familiengespräch.

Sie stehen vor der Tür zum Hof des Hotels in Charlottenburg und rauchen, in einem Moment der Ruhe. Anita Lasker-Wallfisch und ihre Tochter Maya. Die Mutter ist am Vorabend aus London gekommen, zum ersten Mal seit die Tochter von dort weg und nach Berlin gezogen ist.
Anita Lasker-Wallfisch ist 97 Jahre alt und eine der letzten Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz. Sie rettete ihr Leben und das ihrer Schwester Renate, weil sie im Mädchenorchester des Lagers Cello spielte. Später zog sie nach London, wurde eine berühmte Cellistin, fing spät an, ihre Lebensgeschichte zu erzählen.

Inzwischen erzählt ihre Tochter Maya Lasker-Wallfisch, 64 Jahre alt, die Geschichte ihrer Mutter und ihrer im Holocaust ermordeten Großeltern. In zwei Büchern, die auch vom Trauma der zweiten Generation handeln. Maya Lasker-Wallfisch hat schon als Jugendliche Drogen genommen, später lange ein chaotisches Leben geführt, bevor sie Psychotherapeutin und Autorin wurde.
Mutter und Tochter wollen in Berlin an einem Filmprojekt arbeiten. Und gemeinsam auftreten, musikalisch begleitet von Raphael Wallfisch, dem Sohn und Bruder. Er ist ein bekannter Cellist wie seine Mutter und mit ihr aus England angereist. Ein Familientreffen auf der Bühne im Jüdischen Museum Berlin – der Abend ist restlos ausverkauft.
In dem Hotel in Charlottenburg nehmen sie sich vorher Zeit für ein Interview.
Was bedeutet es Ihnen, wieder in Berlin zu sein, Frau Lasker-Wallfisch, und hier gemeinsam mit Ihrer Tochter aufzutreten?
Anita Lasker-Wallfisch: Ich mache das, um Maya zu helfen, was auch immer es ist, das sie machen will. Sonst bedeutet Berlin mir nicht viel.
Ihre Tochter ist vor anderthalb Jahren nach Berlin gezogen.
Anita: Ja. Das ist in Ordnung. Als ich das letzte Mal hier war, habe ich im Bundestag geredet, am Tag der Gedenken für die Opfer des Nationalsozialismus.
Maya Lasker-Wallfisch: Mum war noch nicht in meiner Wohnung, ich zeige sie ihr nachher.
Anita: Ich reise inzwischen so wenig wie möglich. Reisen ist furchtbar.

Wie geht es Ihnen in Ihrem neuen Zuhause in Berlin, Maya?
Maya: Es ist schwierig, sehr schwierig. Ich bin hier noch nicht zu Hause, ich weiß nicht mal genau, was das bedeutet, Zuhause. Ich bin weder an einem Ort noch an einem anderen wirklich.
Für den Auftritt im Jüdischen Museum ist auch Ihr Bruder Raphael Wallfisch nach Berlin gekommen, er wird Cello spielen.
Anita: Der Abend wird zeigen, was hätte sein können, wenn nicht gewesen wäre, was war. Verstehen Sie, was ich meine? Was wir hätten sein können, eine Familie von Musikern, wenn nicht diese Hitler-Geschichte passiert wäre. Eine ganz normale Familie.
Unsere Familie ist vollkommen verrückt im Grunde, weil wir verstreut sind in der Welt.
Was für eine Familie ist Ihre Familie?
Anita: Keine normale Familie. Wir leben alle in anderen Ländern und Kontinenten. Zwei in Amerika, einige in Berlin, andere in England. Vollkommen zerrissen.
Sind Sie alle viel miteinander in Kontakt?
Anita: Ja, man hat ja jetzt diesen Apparat. (Sie zeigt auf ein Handy auf dem Tisch.) Hier und da mal besucht mich auch jemand in London.

Wo wäre die Familie, wenn alles nicht so gekommen wäre, wie es gekommen ist?
Anita: Das ist eine gute Frage. In Berlin nicht, eher vielleicht in Breslau. Wie kann man das wissen. Ich denke nicht über so etwas nach, es ist vollkommen uninteressant, nicht aktuell. Unsere Familie ist vollkommen verrückt im Grunde, weil wir verstreut sind in der Welt. Wenn es nicht diesen Apparat gäbe, über den ich meine Kinder, Enkel oder Urenkel sehen kann, würde ich sie nicht kennen.
Maya Lasker-Wallfisch wurde 1958 in London als zweites Kind ihrer Eltern geboren. Als Heranwachsende begann sie Drogen zu nehmen, es folgte eine schwierige Zeit als junge Erwachsene. Nach einem Entzug ließ sie sich zur psychoanalytischen Psychotherapeutin ausbilden und spezialisierte sich auf das Trauma der Kinder von Holocaust-Überlebenden. Sie hat über ihr Leben und ihre Arbeit zwei Bücher geschrieben, zuletzt erschien „Ich schreib euch Briefe aus Berlin. Rückkehr in ein neues Zuhause“ (Insel-Verlag 2022).
Lebt Ihr Sohn nicht in London?
Anita: Er lebt jetzt außerhalb der Stadt, er ist kaum da, außerdem. Ich bin als Einzige in London geblieben.
Wie war es für Sie, die Bücher Ihrer Tochter Maya zu lesen? Das letzte hat sie in Berlin geschrieben.
Anita: Interessant, ich habe vieles gelernt, was ich nicht gewusst habe über meine Tochter. Ich meine, ihre ganze schlimme Zeit kannte ich. Aber viele Details über sie, ich kann sie jetzt nicht alle aufzählen.
Ich bin kulturell nicht gut vorbereitet auf Deutschland, habe ich festgestellt.
Hat sich Ihr Verhältnis, das zwischen Mutter und Tochter, verändert?
Anita: Ja, vielleicht. Ich denke nicht viel darüber nach. Aber dein Leben hat sich verändert, Maya.
Maya: Die Beziehung zu meiner Mutter ist die einzige Konstante in meinem Leben. Alle Kinder wollen die Anerkennung ihrer Eltern, und ich habe endlich die meiner Mutter gewonnen.
Anita: Absolut.
Maya: Und mein Leben hat sich in der Tat sehr verändert. Ich bin jetzt hier in Berlin. Manchmal wird mir klar, was für eine Riesenaufgabe es für mich ist, hier zu sein, als eine heimkehrende Jüdin. Ich bin kulturell nicht gut vorbereitet auf Deutschland, habe ich festgestellt.

Wie meinen Sie das?
Maya: Ich dachte zum Beispiel, nur meine Mutter ist wie meine Mutter, sehr direkt, manchmal schroff. Aber die Deutschen scheinen so zu sein.
Anita: Nicht alle Deutschen sind schroff, ich bin es.
Maya: Doch, viele sind direkt.
Anita: Wirklich? Ich habe keine Ahnung, ich lebe hier nicht.
Maya: Ich erlebe viele kulturelle Dissonanzen. Die Berliner meinen es oft nicht böse, wenn sie direkt sind, aber ich nehme es zu leicht persönlich und ziehe mich zurück. Mit unserer Geschichte ist das alles nicht einfach. Aber ich will die Arbeit meiner Mutter unbedingt fortführen. Nicht weil sie mich darum gebeten hat. Ich habe mir das selbst ausgesucht.
Er ist schwarz, er ist mein Feind? Er ist Jude, er ist mein Feind? Was ist das für ein Unsinn!
Sie haben mal gesagt, Ihre Mutter übergibt den Staffelstab an Sie. Sie sollen nun vom Holocaust und den Folgen auf die Überlebenden und die Kinder der Überlebenden berichten.
Maya: Meine Mutter hat es einmal so genannt.
Anita: Ja, aber Staffelstab passt nicht ganz. Ich habe den Horror durchlebt. Maya versucht, die Arbeit auf positive Weise weiterzuführen. Es gibt so viele Probleme. Wie wir Juden über die Jahrhunderte behandelt worden sind, ist verrückt. Juden sind einfach nur Menschen. Es würde helfen, wenn Menschen etwas über jüdische Geschichte lernen würden. Woher kommen wir, warum sind wir schon seit so langer Zeit hier, warum sind wir keine Christen geworden? Wissen Sie, wie antisemitisch Martin Luther sich geäußert hat? Es ist ekelhaft. Ein solcher Grad an Antisemitismus.
Was ist Ihre Botschaft, die Bestand haben soll?
Anita: Menschen sollen miteinander reden, statt einander umzubringen. Es ist sehr einfach! Redet miteinander, trinkt eine Tasse Kaffee zusammen, und ihr werdet merken, ihr habt mehr gemeinsam, als euch trennt. Und hört auf, voreinander Angst zu haben. Das würde helfen. Er ist schwarz, er ist mein Feind? Er ist Jude, er ist mein Feind? Was ist das für ein Unsinn!
Sie haben sogar den Sohn von Rudolf Höß, des Kommandanten von Auschwitz, in Ihr Haus in London eingeladen, für ein gemeinsames Filmprojekt.
Anita: Habe ich nicht, das war meine Tochter.
Aber Sie haben ihn empfangen, gemeinsam mit seinem Sohn.
Anita: Das sind total harmlose Menschen. Der Sohn war sieben, als sein Vater das Konzentrationslager leitete, er hatte keine Ahnung, was vor sich ging. Sein eigener Sohn, der Enkel des Kommandanten, war vollkommen traumatisiert, er wurde eine Zeit lang ein fanatischer religiöser Freak, weil er nicht mit der Schuld leben kann. Aber es ist nicht ihre Schuld.
Wie geht es Ihnen damit, die Botschaft Ihrer Mutter weiterzugeben, Maya?
Maya: Es macht mir keine Angst. Die Abwesenheit von Engagement macht mir mehr Angst. Wir arbeiten weiter an dem Film, der meine Mutter und die Familie Höß zusammenbringt, wir haben endlich die Förderung bekommen. Es wird weitergehen. Wie meine Mutter immer sagt: Hoffe auf das Beste und bereite dich auf das Schlimmste vor.