Anschlag auf Breitscheidplatz: Der verschwundene Lkw

Was wurde aus dem Lastwagen, mit dem ein Terrorist am 19. Dezember 2016 in den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz fuhr, um zu töten? Der Lkw wurde beschlagnahmt, verschwand dann. Die Suche nach ihm endet mit einer Überraschung

Banie - Der schwarze Laster steht am Abend des 19. Dezember 2016 inmitten einer Verwüstung. Das Licht der Gedächtniskirche verleiht dem Fahrzeug einen bläulichen Schimmer. Die Frontscheibe ist zerborsten. Tannendekoration und ein Holzbrett hängen aus der Fahrerkabine heraus. Ein Scheinwerfer fehlt und ein Teil der Verkleidung. Wie ein verletztes Tier ragt der große Wagen aus einer aufgeplatzten Kulissenstadt heraus – nach der Raserei an dieser Stelle zum Stillstand gekommen.

Es ist ein Laster, der zu einer Waffe geworden ist – von einem Mörder quer durch den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gesteuert, um zu töten.

Wer einmal anfängt, die Fotos von diesem Tag im Internet aufzurufen, verliert schnell das Gefühl für Zeit und Raum. Noch ein Bild und noch eins, von dieser Seite, von der nächsten, Rettungskräfte bei der Arbeit, Tote und Verletzte unter Alu-Decken, Männer in weißen Schutzanzügen, Polizisten, Feuerwehrleute, ein umgefallener Weihnachtsbaum.

Stillstand nach der Verwüstung: Der Laster nach dem Anschlag.
Stillstand nach der Verwüstung: Der Laster nach dem Anschlag.Imago
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Im Netz gibt es einen Film, in dem man sieht, wie der Wagen von links kommt, mit rasantem Tempo die Kreuzung Budapester Ecke Kantstraße überquert und rechts zwischen den ersten Buden verschwindet. Ein zufällig aufgenommenes Video, möglicherweise aus einem wartenden Auto an der Ampel.

Man sieht es an, wissend, dass wenige Sekunden später mehr als 70 Menschen schwer verletzt werden, elf so schwer, dass sie entweder sofort oder wenig später sterben, während ein Mann bereits tot in der Kabine des Lasters liegt. Das Grauen entwickelt einen Sog, eine abartige Form von Faszination, der man sich nur schwer entziehen kann. Man vergisst diese Bilder nicht mehr.

Es gab eine einfache Ausgangsfrage für diese Geschichte. Die Frage lautet: Was ist passiert mit diesem Laster? Wo kam er hin? Wo ist er heute? Banal eigentlich. Aber so einfach ist die Sache dann nicht. Zu viele Emotionen sind im Spiel.

Es schien kaum vorstellbar, dass dieser Lastwagen jemals wieder ganz normal über Straßen fahren würde, auf dem Weg, Waren abzuliefern bei einem Kunden, so wie an jedem anderen Tag vorher.

Die Bundesanwaltschaft hat direkt nach der Tat das Fahrzeug beschlagnahmt. Es gibt Bilder davon, wie ein Abschleppwagen die Zugmaschine auflädt und wegschleppt. Der Hänger wird von einem Trailer aufgenommen und davongefahren. Das sind die letzten Bilder, die öffentlich verfügbar sind. Wer Monate später wissen will, was aus dem Lkw wurde, muss viel telefonieren.

„Das ist grotesk, das sind Almosen“

Anfangs steht der Laster auf einem Gelände der Berliner Bereitschaftspolizei in Schulzendorf an der Ruppiner Chaussee. Er wird untersucht, wieder und wieder. Es dauert ewig. So lange, dass der Besitzer des Lasters, der polnische Spediteur Ariel Zurawski, nervös wird.

Dieses Fahrzeug sichert seinen Lebensunterhalt. Er kann nicht darauf verzichten. Schließlich beauftragt er einen Anwalt. Im Februar 2017 kommt er nach Berlin. Zu diesem Zeitpunkt darf er wenigstens die Ladung, 20 Tonnen Baustahl, bei Thyssenkrupp abliefern.

Zurawski stellt sich in Berlin neben seinen Anwalt auf die Straße und gibt Interviews. Er klagt über Verdienstausfälle, Kosten, Leasinggebühren. Zurawski hat handfeste Sorgen und rote Zahlen auf seinem Konto. Aber es wird weitere Monate dauern, bis die Staatsanwaltschaft das Fahrzeug freigibt.

So sinnlos sein Tod: Szudzikowska Wladyslowa besucht in Banie das Grab von Lukasz Urban. Der Lkw-Fahrer wurde erschossen.
So sinnlos sein Tod: Szudzikowska Wladyslowa besucht in Banie das Grab von Lukasz Urban. Der Lkw-Fahrer wurde erschossen.Berliner Zeitung/Paulus Ponizak

Erst im April hat die Bundesanwaltschaft ihre Untersuchungen abgeschlossen. Der Generalbundesanwalt veröffentlicht seinen Bericht. Darin wird beschrieben, wie der polnische Lkw-Fahrer Lukasz Urban morgens um 6.30 Uhr mit dem Laster in Berlin eintrifft, wie er ihn abstellt am Friedrich-Krause-Ufer gegenüber der Firma Thyssenkrupp, weil er seine Ladung an diesem Tag dort nicht mehr abliefern kann.

Der Tag des Täters wird beschrieben. Der von Lukasz Urban nicht. Um 19.30 Uhr stirbt er. Es gibt keinen Kampf. Lukasz Urban liegt auf einer Liege unmittelbar hinter den Sitzen. Als er den Terroristen an der Fahrertür bemerkt, beugte er sich vor, fasst nach der Gardine an der Fahrertür und wird erschossen, heißt es in dem Bericht. Und auch, dass die Begutachtung des Tat-Lkws abgeschlossen sei und er an polnische Strafverfolgungsbehörden übergeben werde.

Die polnische Staatsanwaltschaft hat ein Rechtshilfeersuchen gestellt. Polen ermittelt nun noch einmal. Schließlich gibt es in dieser Sache auch zwei polnische Geschädigte: den toten Lukasz Urban und den Spediteur Ariel Zurawski. Dann gibt sie den Laster zurück an den Besitzer.

Stefan Hambura, ein Anwalt mit einer Kanzlei in der Berliner Dudenstraße, vertritt Zurawskis Interessen noch heute. Er ist wahnsinnig wütend. „Herr Zurawski ist total unzufrieden mit der Bundesregierung“, sagt Hambura. Zurawski sei durch den Verdienstausfall ein Schaden entstanden von 100.000 Euro, aber man habe ihn mit 10.000 Euro abgespeist.

Das Geld hat Bundesaußenminister Sigmar Gabriel zur Verfügung gestellt. Auch die anderen Geschädigten, die Angehörigen der Toten, die Verletzten haben Geldsummen in ähnlicher Höhe bekommen.

„Das ist grotesk, eine Farce, das sind Almosen“, sagt Hambura. Die Bundeskanzlerin müsse einen Fonds mit 200 oder 300 Millionen Euro ausstatten, um die Menschen zu entschädigen.

Die Familien der Toten haben sich kürzlich in einem Brief an die Kanzlerin Luft gemacht. Hambura redet sich in Rage. So ist er. In diesem Jahr hat er schon zwei Hungerstreiks veranstaltet, um einen Minderheiten-Status für Polen in Deutschland einzufordern. In der polnischen Botschaft sagt ein Mitarbeiter, Hambura führe einen Kreuzzug gegen die Bundesregierung. Da sei viel Verbitterung. Wie wird es also in Polen sein, in den kleinen Orten, aus denen der Spediteur Zurawski und sein Cousin Lukasz Urban stammen?

Polen ist unser Nachbarland. Heutzutage nimmt man das Auto und fährt einfach über eine Brücke bei Gryfino. Die Oder fließt hier träge. Hüben wie drüben sind es einfache Dörfer, in denen die Menschen leben. Die Häuser sehen ähnlich aus wie die in Deutschland. Aber die Welt ist eine andere.

Auf dem Land: In Sobiemysl leben nur wenige Menschen. In dem Flecken wohnt auch der Spediteur Ariel Zurawski.
Auf dem Land: In Sobiemysl leben nur wenige Menschen. In dem Flecken wohnt auch der Spediteur Ariel Zurawski.Berliner Zeitung/Paulus Ponizak

In Banie ist Lukasz Urban beerdigt. Die Bilder dieser Beerdigung sind um die Welt gegangen. Hunderte Menschen sind gekommen. Urban wird in einem weißen Wagen durch die Straßen gefahren. Der weiße Sarg wird auf den Friedhof getragen. Der polnische Staatspräsident Andrzej Duda fällt auf die Knie. Das ganze Land scheint nur noch aus Gefühlen zu bestehen. Nicht vorstellbar in Deutschland.

In Banie leben 2000 Menschen. Das Ortszentrum wird von einer Kreuzung und einer Kirche gebildet. Aus kleinen Holzbuden heraus verkaufen Händler Lebensmittel und Blumen. Im Blumenladen stehen einige Frauen. Sie lassen sich kleine Sträuße binden. Auf die Frage nach dem Grab von Lukasz Urban reagieren sie mit aufgeregtem Stimmengewirr. Sie alle kennen das Grab und die tragische Geschichte dahinter.

Sie sind anders, die Menschen hier, anders als Großstädter, sie haben keinerlei Berührungsängste. Szudzikowska Wladyslowa, eine Frau im Rentenalter, ist sofort bereit, die Fremden zum Grab zu führen. Sie klettert in das deutsche Auto der Reporter, zeigt mit den Händen den Weg.

Sein Name ist seit dem Anschlag weltweit bekannt

Das Grab von Lukasz Urban liegt in der letzten Reihe auf der linken Seite. Grablichter stehen auf dem schwarzen Marmor. In der Mitte ein Bild. Es zeigt den Laster und dahinter das Gesicht von Lukasz Urban. Der Mann und sein Laster, hier sind sie eine liebevolle Symbiose eingegangen.

Szudzikowska Wladyslowa spricht über den Toten, wie jung er war, erst 37 Jahre alt und wie tragisch, dass er so sterben musste. Zum Abschied umarmt und küsst sie die Besucher aus Deutschland. Es ist ihre Art, Dankbarkeit auszudrücken für die Anteilnahme der Fremden an diesem Leben – an ihrem Leben.

24 Kilometer sind es von Banie nach Sobiemysl, wo Ariel Zurawski lebt. Sein Name ist seit dem Anschlag weltweit bekannt. Er stand gut lesbar in blauen Lettern oberhalb der Frontscheibe auf dem Fahrerhaus des Trailers. Der Name ist auf allen Lkw-Fotos zu sehen.

Sobiemysl ist allerdings kein Ort. Ein paar Häuser stehen auf einem Feld. Man sieht sie schon von weitem, es sind drei größere Wohnblöcke dabei. Ein paar kleinere Häuschen gibt es, einige Flachbauten für Gewerbebetriebe. Es gibt keinen Laden, kein Zentrum. Der Bus hält ein paar Mal am Tag. Im 18. Jahrhundert war dies ein landwirtschaftlicher Gutshof. Früher hieß der Flecken Frankenberg. Bis 1945.

Ariel Zurawski betreibt sein Unternehmen seit 2005. Er steuert es aus einem Einfamilienhaus heraus. Er wohnt dort gemeinsam mit seinen Eltern. Es gibt keinen Fuhrpark, kein Betriebsgelände, kein Bürogebäude, keinen ständigen Mitarbeiterstab. Zurawski beschäftigt ein paar Fahrer, die Wagen least er nach Bedarf. In diesen Tagen sei er kaum zu Hause, sagt seine Mutter. Er habe viel zu tun. Gerade liefert er Waren aus.

Ganz Polen trauert

Ein Nachbar geht auf der Straße spazieren. „Es ist tragisch, was Ariel Zurawski passiert ist, vor allem weil Lukasz Urban auch noch sein Cousin war“, sagt er. Jeder in diesem Dorf kenne die Geschichte. Dann spricht er von den Eltern des Toten. Sie leben in Rosnowo, einem Nachbardorf. Es gehe ihnen schlecht. Sie haben mit Lukasz schon den zweiten Sohn verloren. Der Ältere hat sich im Jahr davor das Leben genommen.

„Ich kannte Lukasz gut. Ich war auch auf seiner Beerdigung“, sagt der Nachbar. So wie jeder hier. Und erst jetzt versteht man, was es bedeutet, wenn der polnische Presseattaché Dariusz Pawlos sagt, ganz Polen trauere.

Ariel Zurawski hat seinen Laster tatsächlich zurückbekommen. Das heißt, er hätte ihn zurücknehmen können. Aber was sollte er mit dieser Maschine? Sein Cousin starb in diesem Wagen und elf weitere Menschen, weil der Lkw sie überfuhr. Dutzende Menschen haben in Berlin so schwere Verletzungen erlitten, dass sie nie wieder dasselbe Leben führen werden wie vor der rasenden Fahrt des Terroristen. Was also sollte Zurawski mit so einem Wagen anfangen? In einer Gegend, in der jeder jeden kennt und Schicksale kollektiv betrauert werden?

Die Deutsche Presseagentur brachte das Gerücht auf, das Haus der Geschichte in Bonn wolle den Lkw übernehmen. Dort allerdings hat man das nicht überlegt. Einen Spiegel vielleicht, das hätte man sich vorstellen können. Seit kurzem gibt es das Thema internationaler Terrorismus in der Ausstellung. Ein Plüschbär der Berliner Feuerwehr, ein Foto vom Breitscheidplatz nach dem Anschlag, Gedichte, die Passanten niedergelegt haben – das wird als Erinnerung an den 19. Dezember 2016 gezeigt.

Aus ethischen Gründen

Die Spurensuche endet bei Scania; der polnische Hauptsitz der Firma befindet sich in Warschau. Scania hat den Leasingwagen zurückgenommen. Auch die schwedische Firma ist seit dem vergangenen Dezember eng mit dem Anschlag verknüpft, weil ihr Name auf der Front des Lasters auf allen Fotos zu sehen ist. Bei Scania tut man sich anfangs etwas schwer mit der Frage, was aus dem Laster geworden sei. Vor dem Anschlag hatte der Laster einen Wert von etwa 100.000 Euro. Aber jetzt?

Der Pressesprecher Hans-Ake Danielsson hält die Frage erstmal für eine Zumutung. Das sei niveaulos, befindet er und weigert sich, herauszufinden, was mit dem Wagen geschehen ist. Aber dann spricht er doch weiter. Und je länger er spricht, umso weicher wird seine Stimme. Eine Menge Menschen bei Scania fühlten sich sehr schlecht wegen des Lasters, sagt er.

„Es war, als ob es eine Attacke gegen die Firma gewesen wäre“, sagt er. Hans-Ake Danielsson muss das jetzt loswerden, so hört es sich an. Scania hat nicht nur finanzielle Schäden erlitten. „Ich werde diesen Abend niemals vergessen“, sagt Danielsson, „unser Laster, auf der ganzen Welt im Fernsehen. Es war ein furchtbarer Abend. So viele Menschen haben Freunde und Verwandte verloren.“ Danielsson weint.

Am nächsten Tag schickt er eine E-Mail. Sie ist kurz. „The truck was scrapped since Scania in Poland found it to be unethical to repair it and put it back into operation“, schreibt er. Der Laster wurde verschrottet, aus ethischen Gründen.