Drogenkiez Berlin-Neukölln: „Der Staat hat hier aufgegeben“
Immer mehr Rauschgiftsüchtige bevölkern die Straßen um den Bahnhof Neukölln und den Körnerkiez. Anwohner verzweifeln.

„Du Sau! Rück das raus!“ Eine dünne Frau schlägt in der Vorhalle des S-Bahnhofs Neukölln mit ihren Fäusten auf einen großen dicken Mann ein. Es geht um Drogen. Hat er sie um ihren „Stoff“ betrogen? Das Geschehen wird von acht Männern verfolgt, die apathisch in einer Ecke sitzen. Die beiden rangeln eine Weile, dann verschwinden sie gemeinsam nach draußen.
Einer der acht Männer zieht an einer kleinen Pfeife. Er raucht offenbar Crack – eine Droge, die nach Sekunden ins Blut gelangt, schnell einen starken Rausch erzeugt und höchstes Abhängigkeitspotenzial hat. Nach zehn Minuten lässt die Wirkung nach.
Menschen, die die S- und die U-Bahn ausgespuckt haben, hasten vorüber. „An den Junkies kommen Kinder vorbei, die zur Schule müssen“, schimpft der Chef des Dönerkioskes auf dem Vorplatz. Er schneidet Streifen vom Drehspieß, als sein Kollege einen Mann fortschickt. Der hat eine große Tasche voller Kaffee, den er verkaufen will. „Ein Ladendieb“, sagt der Kioskbetreiber. „Und da – der auch!“ Er zeigt auf einen weiteren Mann mit großer Tasche. Der Dönerverkäufer kennt sie alle: Es seien Abhängige, die Geld für den nächsten Schuss brauchen.
Der Bahnhof Neukölln gehört zu den sieben sogenannten kriminalitätsbelasteten Orten Berlins, an denen die Polizei besondere Rechte hat und Personen auch verdachtsunabhängig kontrollieren kann.
Wie sicher Berlin ist und wie sicher Neukölln, das erlebt Anastasia Arabazis (Name geändert) täglich. Wir haben uns mit ihr und ihrem Nachbarn verabredet. Sie möchten keinesfalls ihre echten Namen in der Zeitung sehen, zu groß ist die Angst, Kriminelle könnten sie erkennen. Die 45-Jährige wohnt seit elf Jahren im Körnerkiez, in den all jene gelangen, die am Bahnhof Neukölln die Karl-Marx-Straße überqueren.
Korruptionsskandal bei der Polizei
Anastasia Arabazis sagt, dass sie ihr Vertrauen in die Polizei verloren habe. Der Korruptionsskandal im Abschnitt 55 habe sie tief erschüttert.
Vor einigen Wochen wurde bekannt, dass Mitarbeiter des Abschnitts im Verdacht stehen, Informationen aus dem Dienstcomputer an Kriminelle verkauft und diese vor geplanten Razzien gewarnt zu haben. Ein Polizist soll dafür 249.000 Euro kassiert haben. Anastasia, Mutter zweier Kinder, hatte sich schon mehrmals an den Abschnitt gewandt. „Jetzt werde ich es nicht mehr tun“, sagt sie. „Was ist, wenn meine Hinweise an die Falschen geraten?“
Am Kottbusser Tor eröffnete kürzlich die viel diskutierte Nebenwache des Polizeiabschnitts 53. Ein Teil der Dealer und ihrer Kunden fühlte sich wegen der hohen Polizeipräsenz dort ohnehin nicht mehr wohl und verzog sich nach Neukölln. Jetzt gibt es Crack auch im Körnerkiez.
Zauntore vor dem Albrecht-Dürer-Gymnasium
Der Körnerkiez, das sind stuckverzierte Häuser an ruhigen Straßen. Da ist der Körnerpark und ein eingezäunter Kinderspielplatz, und für Familien, die ihrem Nachwuchs zu einem guten Leben verhelfen wollen, das Albrecht-Dürer-Gymnasium. Dessen Eingangsportale sind seit einigen Wochen mit stabilen Zäunen versperrt. Denn auf den Treppenstufen saßen Drogensüchtige und drückten sich auch am Tag vor Kindern und Jugendlichen die Heroinspritzen in Arm, Bauch oder die Leiste. Ihre Utensilien zum Heroinaufkochen ließen sie auf den Stufen zurück.

Der Körnerkiez, das ist eine Couch, die auf dem Fußweg steht, und ein Müllsack, der neben dem Bordstein lehnt. Fahrbahn und Bürgersteig sind übersät mit Papier und Müll. Wie an anderen Orten in der Stadt kommt die Stadtreinigung auch hier nicht mehr hinterher. Wenn Anastasia und ihr Nachbar das Haus verlassen, komme es vor, dass auf dem Treppenabsatz jemand sitzt und sich Heroin spritzt, sagt sie.
Spaziergang durch den Körnerpark: Im nördlichen Teil ist ein Blumengarten, die Rosenbeete wurden vom Grünflächenamt ordentlich gejätet. Der Park gilt als bedeutendes Zeugnis neobarocker Gartengestaltung. Er wurde in einer ehemaligen Kiesgrube angelegt, die der Besitzer Franz Körner 1910 der damaligen Stadt Rixdorf schenkte. Der Park sollte zur Schaffung einer „besonders bevorzugten Wohngegend anspornen“.
Treppen führen hinunter in die Anlage. Auf einer Stufe liegt Kot. Er stammt von einem Menschen. Da ist sich Anastasia sicher. Etwas Ähnliches sei ihr vor einiger Zeit in der Kirchhofstraße widerfahren, als sie mit ihrer Tochter von der Schule kam und sich vor ihnen ein Mann auf dem Gehweg hinhockte. Solche menschlichen Hinterlassenschaften lägen auch in Hausfluren, in Büschen und zwischen Autos, hört man von den Anwohnern.
Warnung vor Spritzen auf dem Spielplatz
Von der Treppe aus ist zu sehen, wie fünf Männer abwechselnd ins Gebüsch gehen und wieder herauskommen. Eine Frau schiebt einen Kinderwagen an ihnen vorbei. Überall in den Büschen liegen Fetzen von Alufolie, mit denen Heroin aufgekocht oder geraucht wurde, sowie gebrauchte Spritzen. „Das kam langsam“, sagt Anastasia Arabazis. „Man hat es einreißen lassen.“
„Wenn man so freundlich ist und drogenakzeptierend handeln will, dann muss man auch Räume schaffen“, sagt ihr Nachbar. Er habe einen Mitarbeiter der Fixpunkt gGmbH angesprochen, die sich um die Abhängigen kümmert. Der habe lediglich gesagt, dass schon mehr Menschen an Glasscherben gestorben seien als an weggeworfenen Spritzen. Und wegen zerbrochener Flaschen mache man ja auch die Spätis nicht zu. Anastasia fügt hinzu: „Ein Ordnungsbeamter sagte zu uns, das sei ein subjektiver Eindruck. Sie hätten nicht so viele Meldungen.“

Es ist diese Nonchalance, die sie und ihren Nachbarn aufregt. In unmittelbarer Nähe des Körnerparks sind zwei Grundschulen und mehrere Kitas, ein Stück weiter ein Kinderspielplatz. An dessen Tor hängt ein Sperrholz-Schild. Es ist verwittert. Die Probleme sind also nicht neu. „Bitte seid achtsam. Es kann sein, dass sich im Gebüsch und um den Spielplatz herum Spritzen und Müll befinden. Fixpunkt und das Bezirksamt wissen bereits Bescheid. Habt einen schönen Tag auf diesem herrlichen Spielplatz.“
50 Euro pro Tag für Crack
Ein Crack-Abhängiger kauft sich im Schnitt fünf 0,1-Gramm-Cracksteine am Tag für je zehn Euro. Das macht 50 Euro. Der Straßenpreis für das Gramm Heroin schwankt je nach Reinheit und Verfügbarkeit und liegt bei 45 Euro. Ein stark Abhängiger, der es spritzt, braucht am Tag drei Gramm. Angesichts etlicher Spritzen und tausender Ampullen, die das Grünflächenamt wöchentlich aufsammelt, müssen die Dealer fantastische Geschäfte machen.
Anastasia und ihr Nachbar sagen, dass sie schon des Öfteren Anzeige bei der Polizei wegen Drogenhandels erstatten wollten. Aber diese seien nicht aufgenommen worden mit der Begründung, dass man eh keine Ermittlungsansätze habe. „Man kommt dann bei den Polizisten rüber als konservative Gentrifiziererin. Dabei denke ich, ich bin von meinen Wurzeln her mehr Getto als die Polizisten“, sagt Anastasia. „Wir erwarten ja auch nicht, dass alles junkiefrei wird. Das Problem ist aber, dass sie in so einer großen Masse auftreten und dass alles irgendwie entgleitet. Vor allem aber: Sie sehen keine Polizei. Der Staat hat hier aufgegeben.“
Hierzu ist die Wahrnehmung unterschiedlich. „Die Polizei ist präsenter als früher“, sagt Doris Lange. „Erst gestern waren sie wieder da und haben etliche rausgeholt aus den Büschen.“ Die 69-Jährige wohnt seit 20 Jahren am Körnerpark. Sie hat vier kleine Hunde dabei. Die Chihuahuas müssen angeleint bleiben, denn die Grünanlage, die nördlich an den Körnerpark grenzt, ist übersät mit Ampullen und Spritzen – obwohl Fixpunkt einen Sammelbehälter für gebrauchte Spritzen aufgestellt hat. Solche „Abwurfbehälter“, wie sie im Fachjargon heißen, standen eine Zeitlang auch im benachbarten Körnerpark. Jetzt sind sie wieder weg. Süchtige hatten sie immer wieder aufgebrochen und darin nach Drogenresten gesucht.

Doris Lange ist mit einer Begleiterin hier, die ebenfalls Hunde an der Leine führt. In zerfetzten Schuhen kommt ein bärtiger Mann mit trübem Blick herangeschlurft. Eine Isomatte umklammernd wartet er, bis die Frauen ihre kleinen Hunde zur Seite gezogen haben. Beide Frauen sind sich einig: „Es ist schlimmer geworden, seitdem alle hier so reindürfen.“ Also seit 2015, seit Beginn der Flüchtlingskrise.
Auch Anastasia hat den Eindruck, dass es immer mehr Flüchtlinge gibt, die hier durch die sozialen Maschen gerutscht sind und zu Drogenkonsumenten wurden. Die Polizeistatistik scheint ihnen recht zu geben. Die Polizei registriert in der Gegend unter anderem immer mehr Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz. Auch bei Drogenkonsumenten.
Überfälle, Diebstähle und Einbrüche
„Letztes Jahr wurde hier jemand fast abgestochen“, erzählt Doris Lange. „Ein Dealer hatte ihn bedrängt, dann eine Flasche zerschlagen und zugestochen.“ Sie und ihre Begleiterin sagen: „Ab 18 Uhr gehen wir nicht mehr raus.“ Sie erzählen von einer Frau, die gerade vom Einkaufen kam. „Der haben sie alles geklaut – Schlüssel, Portemonnaie, alles.“ Jemand sei einer Frau in den Hausflur gefolgt und habe ihr die Goldkette weggerissen.
Von solchen Vorfällen erzählen auch Anastasia und ihr Nachbar. Zum Beispiel von einem Pärchen, das abends von der Arbeit kam und in der Wittmansdorfer Straße von einer Gruppe junger Männer angegriffen wurde. Die Männer hätten die Tür ihres Autos aufgerissen, sie geboxt und getreten. Das Pärchen ist weggezogen. Viele im Kiez können von Beschaffungskriminalität berichten. Von Leuten, die nachts in geparkte Autos leuchten, um Wertgegenstände zu stehlen. Von Wohnungseinbrüchen. Von gestohlenen, ausgeräumten Taschen, die weggeworfen herumliegen. Auch Anastasia erwägt, wegzuziehen. Doris Lange würde es wohl auch tun. Nur: Wo findet man noch eine günstige Wohnung?
Der „kriminalitätsbelastete Ort Hermannstraße/Bahnhof Neukölln“, wie es im Polizeideutsch heißt, erstreckt sich vom Bahnhof Neukölln nach Westen zur Hermannstraße und von der südlichen Silbersteinstraße bis hoch zur Rollbergsiedlung. In diesem Bereich registrierte die Polizei im Jahr 2020 exakt 4419 Straftaten. Im Jahr darauf waren es 3889, und im vergangenen Jahr ging die Zahl auf 4975 hoch.
Davon waren 549 Drogendelikte. Hierzu muss gesagt werden, dass das Betäubungsmittelgesetz manche Absurdität in sich birgt. So ist der Drogenkonsum an sich nicht verboten. Wohl aber der Besitz von Drogen, weshalb die Polizei mit Festnahmen, Strafverfahren und Platzverweisen reagieren muss, wenn sie jemanden beim Heroinspritzen erwischt.
Am „kbO Hermannstraße/Bahnhof Neukölln“ kamen im vergangenen Jahr zu den Drogendelikten auch damit zusammenhängende Straftaten: 437 Körperverletzungen, 90 Raubüberfälle und 326 Taschendiebstähle. Festgestellt wurden auch 257 Verstöße gegen Aufenthalts- und Asylgesetze. Im Jahr 2021 waren es 161 und im Jahr 2020 nur 84. Allerdings war zu dieser Zeit wegen der Corona-Einschränkungen auf den Straßen weniger los. Berücksichtigt werden muss auch, dass die Zahl der Drogendelikte und Verstöße gegen Aufenthaltsgesetze davon abhängt, wie intensiv die Polizei kontrolliert.

„Die Kriminalitätslage im Bereich des kbO Hermannstraße/Bahnhof Neukölln wird geprägt durch das Aufeinandertreffen verschiedener Milieus“, teilt eine Polizeisprecherin schriftlich mit. „Der örtliche Handel mit und der Konsum von Betäubungsmitteln bedingt nicht selten einen Anstieg von als Begleitkriminalität bekannten Deliktsfeldern wie beispielsweise Diebstahl, Raub und Körperverletzung.“
Was aber unternimmt die Polizei? Zu dieser Frage antwortet die Sprecherin, dass die Polizei ihre Maßnahmen gezielt auf die Deliktsfelder ausrichte, die einen erheblichen Einfluss auf das Sicherheitsgefühl hätten. „Die Stärkung des Sicherheitsgefühls der Bevölkerung und die Verhinderung der Tatbegehung typischer Delikte der Straßenkriminalität durch sichtbare polizeiliche Präsenz und Ansprechbarkeit bilden die Schwerpunkte polizeilicher Maßnahmen der seit dem 1. Januar 2020 bestehenden Brennpunkt- und Präsenzeinheit.“
Beschwerden bei der Suchthilfekoordinatorin
Lilli Böwe ist eine von zwei Suchthilfekoordinatoren des Bezirks Neukölln und trat 2021 ihren Dienst an. Sie soll „die Nutzungskonflikte durch den Konsum im öffentlichen Raum bearbeiten“, wie es offiziell heißt. Mit der neuen Stelle setze das Bezirksamt „einen Schwerpunkt bei den Ängsten und Sorgen der Neuköllnerinnen und Neuköllner, die durch den Drogenkonsum in Grünanlagen, Hausfluren und U-Bahnhöfen stark belastet sind“.
Bei Lilli Böwe, erreichbar unter 030/902392380, gehen jede Menge Beschwerden ein. Über Obdachlose, die in Grünanlagen zelten, über Konsumrückstände, über Spritzen. Die Zahl der Drogenkonsumenten habe sich aber nicht wesentlich erhöht, sagt Lilli Böwe. Auch mit dem Zustrom von Flüchtlingen habe der Drogenkonsum auf den Straßen nichts zu tun. „Es gibt aber weniger Rückzugsorte“, sagt sie. „Die Betroffenen sind sichtbarer geworden.“

Sie nennt einen der Gründe für die Sichtbarkeit der Drogenkonsumenten: Diese hätten sich früher auf Brachen aufgehalten, etwa vom ehemaligen Frauenkrankenhaus an der Grenzallee oder dem stillgelegten und dann abgebrannte Spaßbad „Blubb“, wo sie niemanden gestört hätten. „Doch diese Brachen wurden inzwischen bebaut und sind verschwunden. Die Menschen wurden auf die Straßen verdrängt. Gleichzeitig fehlen ausreichend Konsumräume, Unterkünfte und Substitutionsangebote“, sagt Lilli Böwe.
Es geht auf 15 Uhr zu. An der Karl-Marx-, Ecke Schierker Straße stehen drei Männer zusammen. Weitere kommen hinzu, nun sind es acht, schon bald fünfzehn. „Immer um dieselbe Zeit warten sie auf ihren Dealer“, sagt Anastasia Arabazis, die inzwischen einen guten Blick dafür hat. Der mutmaßliche Dealer kommt von der Kirchhofstraße herübergelaufen. Am Ende der Straße, drüben am Richardplatz, würden die Verkäufer regelmäßig aus einem Auto ihre Ware in Empfang nehmen, sagt sie.
Das bestätigt auch ein Gast des Körner-Backshops, der dort seinen Kaffee trinkt. „Die Kunden sammeln sich. Dann nehmen die Dealer sie mit in den Körnerpark.“ Seit 18 Jahren wohne er hier, sagt der Kaffeetrinker, der, wie so viele, auf keinen Fall sagen will, wie er heißt. „Es ist in letzter Zeit immer schlimmer geworden. Doch statt Polizisten sehen Sie hier das Ordnungsamt, das alle zwei Stunden Strafzettel an Falschparker verteilt.“ Vor der Tür sitzen ein paar Leute an den Tischen. Ein Mann tritt an sie heran und öffnet eine Tasche. Er will ihnen Geschirrspüler-Tabs verkaufen, die wohl gestohlen sein dürften. Die Männer schütteln den Kopf, der Mann schlurft weiter.
Die Berliner Polizei verbrachte hier 31.932,62 „Dienstkräftestunden“
Aber bei der Polizeipräsenz ist es, wie gesagt, eine Frage der Wahrnehmung. Die Behörde verweist darauf, dass ihre Einsatzkräfte im vergangenen Jahr in der Gegend 31.932,62 „Dienstkräftestunden“ geleistet hätten.
Klaus Scheider jedenfalls geht es wie dem Mann aus dem Backshop oder Anastasia und ihrem Nachbarn: Auch er sieht selten Polizei. Der 83-Jährige ist seit 1964 Inhaber eines Fotoladens an der Karl-Marx-Straße und handelt mit analoger Fototechnik. In seinen Vitrinen liegen Objektive und Mittelformat-Gehäuse. Über die Jahrzehnte sah Scheider, wie sich der Kiez um ihn herum veränderte und wie die Karl-Marx-Straße verfiel, die einst eine attraktive Einkaufsstraße war. „Jetzt haben Sie hier doch nur noch Billig-Shops.“
Mitunter versuche jemand, in seinem Laden zu klauen. „Aber das habe ich bisher immer abwenden können“, sagt Klaus Scheider. „Man sieht es auch, wenn da einer reinkommt, da bin ich schon auf der Hut.“ Nein, unsicher fühle er sich nicht. „Ich bin ziemlich wehrhaft.“ Früher, da hatte die Polizei mal einen Kontaktbereichsbeamten, der immer mal vorbeikam. „Aber das ist lange vorbei.“

Die Kontaktbereichsbeamten, die sogenannten „KOB“, wurden vor 20 Jahren abgeschafft, als Berlin sparen musste. Inzwischen hat man im Polizeipräsidium eingesehen, dass das keine gute Idee war. Jeder Berliner Polizeiabschnitt soll in diesem Jahr wieder einen „KOB“ bekommen.
Klaus Scheiders Umsatz ging in den vergangenen Jahren zurück. Das liege an der Gegend, an Parkplatzproblemen und auch an Corona, sagt er. „Aber ich bin jetzt nicht mehr darauf angewiesen und mache es nur noch ein bisschen aus Spaß. Und wenn ich mal nicht mehr kann, höre ich auf.“ Ein junges Pärchen kommt in den Laden und fragt nach einer Mittelformat-Kamera.
Nicht weit von seinem Laden entfernt ist der Drogenkonsumraum der Fixpunkt gGmbH, der „Druckausgleich“. Es ist eine Einrichtung der Drogenhilfe für Konsumenten, die noch nicht oder nicht mehr erreicht werden. Sie sind verelendet, leiden an Hepatitis, HIV oder sind psychisch auffällig. Immer mehr kommen aus Osteuropa. Im „Druckausgleich“ gibt es eine Dusche und eine Kleiderkammer, sterile Konsumutensilien wie Spritzen und die Vermittlung weiterführender Hilfen. Und der Bezirk – als einziger in ganz Berlin – bezahlt drei Streetworker, die sich aber nur 1,85 Stellen teilen.
Fixpunkt gibt Verhaltenstipps bei Spritzenfunden
Nach Angaben des Geschäftsführers von Fixpunkt, Raphael Schubert, hatte der „Druckausgleich“ von November bis Januar täglich im Schnitt 193 Besucher. Pro Tag hätten dort 66 „Konsumvorgänge unter Aufsicht der Einrichtung“ stattgefunden. An wie viele Menschen Spritzen ausgegeben werden, wird nicht erfasst. Schubert geht davon aus, dass es einen Großteil der Besucher betrifft.
Dass sich jemand im öffentlichen Raum an einer weggeworfenen Spritzennadel verletzt hat, ist dem Geschäftsführer nicht bekannt. Gleichwohl hat Fixpunkt, von der Senatsverwaltung für Gesundheit finanziell gefördert, eine fröhlich anzuschauende Broschüre ins Netz gestellt: Mit bunten Comics und Tipps in Bezug auf Spritzen. „Wenn sich ein Kind an einer Spritze gestochen hat, soll es unbedingt und sofort den Eltern/ Erzieher*innen davon berichten.“ In der Broschüre wird auch behauptet: „Die meisten Drogenkonsument*innen stellen ihre Nachbarschaft vor keinerlei Probleme und konsumieren ihre Drogen versteckt oder im privaten Rahmen.“

Die Broschüre gibt Hinweise, wie man sich bei Begegnungen mit Konsumenten verhalten soll: „Dass Drogenkonsument*innen beispielsweise im Hauseingang konsumieren, ist keine Provokation gegen Sie persönlich“, steht dort. „Die Person ist in diesem Moment nicht imstande, ihr Umfeld entsprechend wahrzunehmen. Sie hingegen fühlen sich gestört, sind vielleicht wütend über die Abfälle, haben Sorge um die Kinder oder Angst vor Bränden. Jeder Mensch reagiert anders. Solche unerwarteten Begegnungen können zu Konfliktsituationen führen.“ Und weiter: „Vermeiden Sie aggressives Verhalten.“
Anastasia Arabazis geht zur Karl-Marx-, Ecke Kirchhofstraße und blickt auf die evangelische Magdalenenkirche. Zehn Männer treten nervös von einem Fuß auf den anderen und warten auf ihren Dealer. Dann kommt ein Mann mit Daunenjacke. Anastasia kennt ihn, weil sie jeden Tag hier entlang muss. Der Mann trägt eine Bauchtasche – wohl mit neuer Ware. Als die Männer ihn sehen, gehen sie in das grüne achteckige öffentliche Pissoir. Der Mann mit der Daunenjacke folgt ihnen. Er schaut sich nicht einmal um.
In einer früheren Version schrieben wir, die neue Polizeiwache am Kottbusser Tor gehöre zum Polizeiabschnitt 55. Richtig ist, dass sie zum Abschnitt 53 gehört.
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