Anwohner unterliegt vor Gericht: Die Bergmannstraße bleibt so, wie sie ist
Das gefällt nicht jedem: Die Kreuzberger Flaniermeile ist ein Testfeld der Mobilitätswende. Jetzt bekam der Bezirk recht. Auch ein Radfahrer klagte ohne Erfolg.

Was dort passierte, erhitzte die Gemüter. Jetzt aber hat das Verwaltungsgericht Berlin die Umgestaltung der Bergmannstraße in Kreuzberg für rechtmäßig erklärt. Am Dienstag wies die 11. Kammer des Gerichts die Klage eines Anwohners der benachbarten Nostitzstraße ab (11 K 138/22). Der Mann hatte sich dagegen gewandt, dass das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg einen 250 Meter langen Abschnitt der Bergmannstraße zu einer Einbahnstraße erklärt hat. Auch die Klage eines Radfahrers, der gegen Tempo 10 auf dem dortigen Radweg vorging, blieb ohne Erfolg (11 K 401/21).
Die Bergmannstraße gilt als eines der Experimentierfelder der Mobilitätswende in Berlin. Ob Falschparker mit Findlingen vergrämt oder Autofahrer mit grünen Punkten auf der Straße zum Langsamfahren bewegt werden sollen: Was dort geschah, um den motorisierten Individualverkehr einzudämmen, wurde stadtweit diskutiert. Auch wenn es immer wieder Protest gibt: Grundsätzlich ist die Flaniermeile kein schlechter Ort für solche Versuche – nicht nur, weil sie durch eine Grünen-Hochburg verläuft. 2018 ergab eine Umfrage, dass in Friedrichshain-Kreuzberg nur 35 Prozent der Haushalte über einen Pkw verfügen. Lediglich 13 Prozent der Wege wurden im Auto zurückgelegt.
Als der Senat 2011 die erste deutsche Fußverkehrsstrategie verabschiedete, überraschte es nicht, dass die Bergmannstraße darin vorkam. Seitdem lautet das Ziel, sie zu einer Begegnungszone umzugestalten. Konkret heißt dies, dass Tempo 20 gilt, die meisten der 95 Autostellplätze verschwinden und Radler sowie Fußgänger sicher vorankommen.
Wohnviertel soll „Kiez der Zukunft“ werden
Sieben Jahre später, im Oktober 2018, startete der Bezirk eine Testphase, die bis September 2019 dauerte und 1,6 Millionen Euro kostete. Zwei lang gestreckte Holzbänke sowie 17 Podeste aus Stahl und Holz mit gelb lackierten Pflanzkübeln sowie Sitzgelegenheiten, sogenannte Parklets, belegten frühere Autostellplätze.
2020 ging es weiter. Die damalige Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) kündigte an, dass das Wohnviertel zum „Kiez der Zukunft“ gestaltet werden solle. Im Juli 2021 erließ das Bezirksamt eine verkehrsrechtliche Anordnung, deren Kernstück eine Einbahnstraßenregelung ist. Seitdem darf die Bergmannstraße zwischen der Zossener und der Nostitzstraße von Kraftfahrzeugen nur noch nach Westen befahren werden. Neben der Fahrbahn wurden Pflanzkübel aufgestellt, außerdem ließ der Bezirk unter anderem Lieferzonen sowie einen Zweirichtungsradweg mit Tempo 10 markieren.
Um diese Anordnung geht es nun am Dienstag vor Gericht. Der Radfahrer Christoph Herrmann hatte gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung geklagt. Eine Gefahrenlage gebe es dort nicht, das Tempolimit sei überflüssig, sagte er. Aber zunächst beriet die 11. Kammer im Plenarsaal des Gerichts in der Moabiter Kirchstraße über die Klage von Stefan Zimmermann. Dass der Bezirk den Verkehr beruhigen will, rege ihn nicht auf, betonte der Kläger, der in der nördlichen Nostitzstraße rund 200 Meter von der Bergmannstraße entfernt wohnt. Auch nicht, dass Radfahrern und Fußgängern „etwas Gutes“ getan werden soll. „Mich stört, dass das Ganze nicht gut geplant ist“, betonte Zimmermann. „Aus heiterem Himmel“ sei ein anderes Konzept umgesetzt worden.
„Da wackeln die Wände. Das ist wahnsinnig laut“
In seiner Erdgeschosswohnung, aus der er auf die Nostitzstraße blickt, bekomme er die Auswirkungen zu spüren. Ausweichverkehr, der über das Kopfsteinpflaster holpert, belaste ihn den ganzen Tag über mit bislang ungekanntem Lärm, sagte Zimmermann. Wenn Sattelschlepper und andere Lkw einen der Supermärkte in der Bergmannstraße beliefert haben, dürfen sie nicht mehr geradeaus weiterfahren. Stattdessen biegen sie nun in die Nostitzstraße ab und fahren an seiner Wohnung vorbei. „Da wackeln die Wände. Das ist wahnsinnig laut.“ Auch die Zahl der Autos habe zugenommen. Waren früher fast nur Anlieger unterwegs, gebe es nun Durchgangsverkehr, so Zimmermann.
„Die objektiven Zählungen ergeben ein anderes Bild“, entgegnete Rechtsanwalt Remo Klinger. Der Berliner Jurist hat mehrmals die Deutsche Umwelthilfe vertreten, nun bekam er das Mandat vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg. Zu den meisten Tageszeiten sei die Zahl der Fahrzeuge in der Nostitzstraße zurückgegangen, berichtete Klinger. Die Supermärkte in der Bergmannstraße erforderten meist nur zwei Lieferfahrten pro Tag, das sei keine hohe Belastung. Der Bezirk habe die strittige Anordnung vor allem deshalb getroffen, weil die Bergmannstraße zuvor ein Unfallschwerpunkt mit vielen Fahrradunfällen war. Die Einbahnstraßenregelung sei nötig, weil auf der 13 Meter breiten Fahrbahn neben dem Radweg, den Lieferzonen und anderen Bereichen kein Platz für eine zweite Autofahrspur sei, so der Anwalt.
Das deutsche Straßenverkehrsrecht legt die Latte hoch
Heike Grigoleit, die Vorsitzende Richterin der 11. Kammer, hatte dem Kläger aufmerksam zugehört, als er seine subjektiven Eindrücke schilderte. Zimmermann könne „ein Rechtsschutzbedürfnis nicht abgesprochen werden“, sagte sie später. Die Juristin bezweifelte auch, ob die Anordnung des Bezirks, die mit Bezügen auf frühere Verwaltungsakte verwirrt und sich auf dürre Erläuterungen beschränkt, ausreichend bestimmt sei. Manches sei „ungewöhnlich“. Doch im Kern stimmte das Gericht dem beklagten Bezirksamt zu. Der Tatbestand für die getroffene Anordnung sei erfüllt, hieß es. Das Bezirksamt habe sein Ermessen korrekt ausgeübt. Alternativpläne des Klägers, die Gehwege zu verschmälern, hätten den Verlust von Straßenbäumen zur Folge.
Zuvor aber holte die Vorsitzende etwas aus. Laienhaft umformuliert: Grigoleit versuchte zu vermitteln, dass es in diesem Rechtsgebiet nicht darum geht, ob eine Anordnung sinnvoll sei, ob die Verwaltung eine „gute Idee“ verfolge. Der Öffentlichkeit sei oft nicht bewusst, dass Gefahrenabwehrrecht dominiere. Die Straßenverkehrsordnung erlaube Beschränkungen des Verkehrs nur, wenn Sicherheit und Ordnung dies erfordern. Wenn es um fließenden Verkehr geht, liege die Latte für die Behörden sogar noch höher. Dann seien Beschränkungen nur dann zulässig, wenn „aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko erheblich übersteigt“.
Erst Pop-up-Radwege, dann eine Busspur und die Friedrichstraße
Die Ausführungen der Vorsitzenden Richterin ließen sich als eine Replik auf die Reaktionen verstehen, mit der Verfechter der Mobilitätswende Entscheidungen der 11. Kammer kommentiert haben. Im September 2020 gab der Spruchkörper dem Eilantrag eines AfD-Abgeordneten recht, der gegen alle Berliner Pop-up-Radwege geklagt hatte. Der Kläger zog später seine Klage zurück. Im September 2022 kippte die 11. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin die Busspur in der Clayallee in Zehlendorf, im Oktober 2022 hob sie dann die Sperrung der Friedrichstraße für Autos auf. Nicht immer habe die Verwaltung in den Verfahren glücklich agiert, kommentierte ein Beobachter.
Im Fall Bergmannstraße erkannte das Gericht die Argumentation der beklagten Behörde jedoch im Grundsatz an. Diese konnte der Bezirk für die Bergmannstraße mit offiziellen Zahlen untermauern. So registrierte die Polizei während der Jahre 2018 bis 2020 insgesamt 89 Verkehrsunfälle mit 175 Beteiligten. Vier Menschen wurden schwer, 23 leicht verletzt – alles Radfahrer.
Verkehrssicherheit darf höhere Gewicht bekommen als ein Ruhebedürfnis
„Das Bezirksamt als Straßenverkehrsbehörde kann nach der Straßenverkehrsordnung die Benutzung von Straßen beschränken, wenn besondere örtliche Verhältnisse zu einer Gefahrenlage führten“, fasste Gerichtssprecherin Kathleen Wolter zusammen. Eine solche qualifizierte Gefahrenlage habe in der Bergmannstraße nach den Unfallstatistiken bestanden. Die getroffenen Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung seien auch nicht ermessensfehlerhaft: „Die Behörde habe die Verkehrsentwicklung in der Nostitzstraße ausreichend berücksichtigt. Die Verkehrssicherheit habe dabei höher gewichtet werden dürfen als das Interesse des Anwohners, von Lärm durch erhöhten Verkehr am Morgen verschont zu bleiben, zumal seine Angaben zur Lärmbelastung vage geblieben seien.“
Gäbe es andere Möglichkeiten, die Verkehrssicherheit zu erhöhen?, fragte die Vorsitzende Richterin – und brachte gleich eine Option ins Spiel. In der Solmsstraße, wo ihre Tochter lebe, dämpfen Berliner Kissen das Tempo. Stefan Zimmermann sagte, er würde sich solche Betonfertigteile auch auf der Fahrbahn der Nostitzstraße wünschen. Felix Weisbrich vom Straßen- und Grünflächenamt, der wie Klinger mit dem Rad ins Gericht gekommen war, biss an. Der Einbau zwei solcher Betonfertigteile sei geplant, konnte aber aus finanziellen Gründen bisher nicht realisiert werden, so der Amtsleiter.
Berliner Kissen sollen das Tempo dämpfen
Könne er den Einbau noch für dieses Jahr verbindlich zusagen, fragte die Vorsitzende Richterin. Ja, das könne er, antwortete Felix Weisbrich. Stefan Zimmermann wunderte sich, warum das Bezirksamt eine frühere Anfrage anders beschieden hatte. „Dann hätte ich mir den Aufwand sparen können.“ Kurz darauf gab er allerdings bekannt, dass er trotzdem an seiner Klage festhalte. Am Nachmittag wies das Gericht sie ab.