Lieferando-Fahrerin: „Manchmal komme ich nach Hause und fange an zu weinen“
Immer wieder werden die Arbeitsbedingungen von Lieferdienst-Kurieren angeprangert. Wir haben eine Lieferando-Fahrerin am heißesten Tag des Jahres begleitet.

Das Smartphone dröhnt und es macht scheppernd „Bling“. Die nächste Bestellung. Es klingt wie bei einem Computerspiel: Los, eine neue Herausforderung, schnapp sie dir! Aber für Iris, die 40-jährige Lieferando-Fahrerin, klingt dieser Sound nicht nach Abenteuer. Er klingt nach Stress. „Ich hasse dieses Geräusch“, sagt sie und tippt hektisch auf ihr Handy. Schweiß läuft ihr unter dem weißen Helm über die Stirn. Dabei hat ihre Schicht gerade erst begonnen.
Es ist kurz nach eins am Mittwochmittag, am heißesten Tag dieses Jahres. Eben hat jemand in Neukölln per App einen Hamburger und ein paar Pommes bestellt. Ein Algorithmus hat den Auftrag an Iris erteilt. Sie checkt die Route. Drei Kilometer zum Burger-Laden, vier Kilometer zum Kunden. Ihr orangefarbener, kastenförmiger Rucksack hängt schlaff von ihrem Rücken wie ein nasser Sack. Sie schwingt ihr Bein umständlich über den Sattel ihres E-Bikes.
Neulich habe jemand auf der Karl-Marx-Straße plötzlich seine Autotür aufgerissen, erzählt sie, und sie sei mit dem Fahrrad mitten reingerasselt und vornüber auf den Asphalt geknallt. Zum Glück habe sie lange Kleidung getragen. „Hoffentlich passiert mir heute nichts mit meinem kurzen T-Shirt“, sagt sie.
Sich Essen liefern lassen – das gehört inzwischen so selbstverständlich zum Leben in der Großstadt, wie sich einen Scooter zu mieten oder nachts noch beim Späti ein Bier zu trinken. Es ist ja auch so angenehm einfach: Man wählt zwischen einer Vielzahl an Restaurants, wartet etwa 30 Minuten und schon klingelt jemand an der Tür, der Sushi, Schnitzel oder Tacos in Papiertüten überreicht. Kein Kochen, kein Abwasch, man kann sogar in Unterhemd und Jogginghose bleiben.
Arbeiten unter harten Bedingungen
Während es für die, die sich das Essen bei Lieferando oder den Konkurrenten Wolt und Uber Eats bestellen, vielleicht ein kleiner Luxus ist, arbeiten die Kuriere unter harten Bedingungen. Tagtäglich schlängeln sich allein von Lieferando, dem Marktführer, etwa 1400 sogenannte Rider durch den Verkehr. Sie hasten zwischen Restaurants und Wohnungen hin und her, Treppe rauf, Treppe runter, egal ob es regnet oder schneit oder, wie heute, fast 39 Grad heiß ist. Iris ist eine von ihnen.
Eigentlich heißt sie anders. Ihr richtiger Name soll nicht in der Zeitung stehen. Sie hat Angst, von Lieferando gefeuert zu werden. Um sie zu schützen, sagen wir hier auch nur, dass sie aus Südeuropa stammt. Sie spricht gebrochen Deutsch, ihr Englisch ist etwas besser.
Sie fährt am ausgetrockneten Tempelhofer Feld entlang. Heißer Fahrtwind weht Iris wie ein Fön ins hochrote Gesicht. Die Straßen sind wie leergefegt. Nur ein paar Fahrradfahrer gondeln träge vorbei. Gerade hat sie den Burger abgeholt. Aus ihrem Rucksack strömt der Geruch von frischen Pommes. Sie sagt: „Die meisten Kunden kommen noch nicht mal bei dieser Hitze runter, lassen uns ihr Essen in den vierten Stock tragen und geben dann zwei Euro Trinkgeld, um ihr Gewissen zu beruhigen.“
Viele Einwanderer arbeiten in Berlin als Kuriere
Als sie an der Adresse ankommt, passiert, aus ihrer Sicht, fast ein Wunder. Der junge Mann, dem sie das Essen liefert, kommt ihr in Shorts und Schlappen entgegen. Er drückt ihr vier Euro und eine kühle Flasche Wasser in die Hand. „Ihr Armen“, sagt er, „bei der Hitze.“ Iris reißt die Augen auf. „Sowas habe ich in anderthalb Jahren bei Lieferando noch nie erlebt“, sagt sie.
Iris' Leben ist exemplarisch für das so vieler Kurierfahrer, die oft als Einwanderer nach Berlin kommen. Dort, wo sie aufwuchs, sei nur das Wetter gut gewesen, sagt sie. Alles andere – die Arbeit, das Gehalt, die Korruption, die Politik – habe sie in ihrem Land irgendwann nicht mehr ausgehalten. Vor zwei Jahren machte sie zum ersten Mal Urlaub in Berlin. Zwei Freunde von ihr leben hier. „Ich habe mich sofort in die Stadt verliebt“, sagt Iris. Sie blieb.

Ihr Traum ist es, hier ein Yogastudio zu eröffnen. Ihre Realität sind drei Jobs. Sechsmal die Woche rast sie für Lieferando über die Straßen, meist etwa viereinhalb Stunden pro Schicht. Daneben putzt sie in vier Wohnungen. An drei Tagen unterrichtet sie in einem Yogastudio. Am Ende des Monats habe sie trotzdem meist nicht viel mehr als 1000 Euro zur Verfügung. Da bleibt nicht viel für ihren Traum.
Tut Lieferando genug bei der Hitze?
Vor zwei Tagen ging auf Twitter ein Aufschrei viral. „Heute 35°C, morgen 38°C. Lieferando, wann wird der Betrieb eingestellt? Wir fahren 8-Stunden-Schichten in der prallen Sonne, die ganze Zeit im Stress durch Vorgesetzte, Bonussystem und die Angst, gekündigt zu werden. Das ist gefährlich!“ Geschrieben hat dies das Lieferando Workers Collective (LWC), ein loser Zusammenschluss von etwa 30 Ridern.
In der offiziellen Stellungnahme von Lieferando heißt es dazu: „Gesundheit hat bei uns oberste Priorität.“ Die Fahrer seien angehalten, häufiger Pausen zu machen und Wasser werde im Hub, dem Fahrradlager, zur Verfügung gestellt. Der Hub befindet sich in der Kochstraße in Mitte. Weit entfernt von Iris' Einsatzort. „Warum“, fragt sie, „gibt es nicht mehr Orte, wo wir uns aufhalten und Wasser holen können?“ Lieferando verweist darauf, dass man auch in den Partnerrestaurants um Wasser bitten könne. Zudem gibt es eine Karte, in denen Wasserspender in der Stadt eingezeichnet sind.
Heute 35°C, morgen 38°C. @Lieferando, wann wird der Betrieb eingestellt? Wir fahren 8 h Schichten in der prallen Sonne, zwischendurch Treppen hoch und runter rennen, die ganze Zeit im Stress durch Vorgesetzte, Bonussystem und die Angst, gekündigt zu werden 🤬 Das ist gefährlich!
— Lieferando Workers Collective (LWC) Berlin (@LWC_Berlin) July 19, 2022
Nur wenige Sekunden, nachdem Iris ihre erste Bestellung ausgeführt hat, ertönt wieder das blecherne „Bling!“ Eine neue Bestellung, wieder Burger. Sie steigt auf ihr Fahrrad. Sieben Minuten durch die Hasenheide zum Laden. Von dort am Hermannplatz vorbei elf Minuten zum Kunden. Iris fährt langsam. Von hinten sieht man nur ihren Rucksack, darunter ihre dünnen Beine. Sie schnauft. Das E-Bike sei nicht wirklich eine Entlastung, sagt sie. Nur, wenn es bergauf gehe, helfe es ein bisschen.
Der Algorithmus von Lieferando führt die Rider weit weg
An manchen Tagen, erzählt Iris, führe sie der Algorithmus mit jeder Bestellung ein bisschen weiter weg von ihrem Einsatzort. Neulich sei sie am Ende in Wilmersdorf gelandet. Nach einer harten Schicht habe sie noch eine dreiviertel Stunde mit dem Fahrrad nach Hause gebraucht. Sie verfasst handschriftliche Flyer für Demonstrationen gegen die Arbeitsbedingungen bei Lieferando. In einem heißt es: „Wie oft haben wir von Kollegen gehört, dass sie nur eine Zeit lang hier arbeiten? Wie oft haben wir uns das selbst gesagt und sind doch geblieben?“
Dritte Bestellung: Chinabox (Neun Kilometer, zwei Euro Trinkgeld). Vierte Bestellung: Schawarma (Acht Kilometer, kein Trinkgeld). Nach der fünften Bestellung kommt eine Weile keine weitere. Es ist inzwischen halb vier. Iris sinkt auf die Steinstufen vor dem Haus, in dem sie gerade eine Pizza in den vierten Stock gebracht hat (zwei Euro Trinkgeld). „Das ist meine Pause“, sagt sie und atmet schwer. Sie nimmt einen Schluck aus ihrer Trinkflasche. Eine richtige Pause sei in ihrer Schicht nicht vorgesehen, erst ab sechs Stunden Arbeitszeit gäbe es eine Stunde frei, sagt sie. „Aber Pause machen wir dann eben hier auf der Straße oder im Treppenhaus.“
Lieferdienst-Fahrer haben weniger Rechte
Ein Anruf bei der Arbeitsrechtlerin Miruna Xenocrat. Beim Verein ArbeitnehmerHilfe berät sie ehrenamtlich viele Fahrer von Lieferdiensten wie Gorillas, Flink und Wolt. Auch von Lieferando. Sie sagt: „Das Problem ist, dass Fahrer, die draußen arbeiten, leider nicht so viele Rechte haben.“ Für Menschen, die in geschlossenen Räumen arbeiteten, gelte die Arbeitsstättenverordnung. Herrschten dort Temperaturen über 35 Grad, dürfe in diesen Räumen nicht mehr gearbeitet werden. Es sei denn, der Arbeitgeber leite Schutzmaßnahmen ein. „Im Freien gilt das nicht“, so Xenocrat. Es sei ein strukturelles Problem, das der Gesetzgeber ändern müsse.
Sechste Bestellung: nochmal Pizza (fünfter Stock, kein Trinkgeld). Die siebte ist die letzte für Iris an diesem Tag. Insgesamt hat sie 26 Kilometer zurückgelegt und zwölf Euro Trinkgeld verdient. Sie steht vor einem koreanischen BBQ-Laden am Landwehrkanal. Um sie herum sitzen junge Leute in kurzen Hosen, trinken Limonade und schwatzen. Iris sagt: „Manchmal komme ich nach Hause und muss weinen. Du fährst und fährst und fährst, wofür?“
Natürlich frage sie sich oft, wie lange sie das noch machen wolle. Doch dann denkt Iris an ihren Traum, daran, dass sie kaum Deutsch und auch nicht besonders gut Englisch spricht. Und was soll sie auch sonst arbeiten? „Noch ein bisschen“, sagt sie, „vielleicht noch bis zum Winter.“ Vielleicht.
Hinweis:
In einer früheren Version war davon die Rede, dass die Fahrerin am Ende des Monats "meist nicht viel mehr als 1000 Euro verdient“ habe. Dies war missverständlich formuliert. Gemeint war, was die Fahrerin, Ihren Angaben nach, am Ende des Monats Netto zur Verfügung hat. Nach einem Hinweis von Lieferando Deutschland, dass die Gehaltsangabe unrealistisch sei, haben wir den Text entsprechend angepasst.