Archäologie am Molkenmarkt: Feine Schuhe und edles Strick von vor 600 Jahren
Ein holzverkleideter Keller gibt Tausende Fundstücke frei, die vom Alltag einer Urberliner Familie erzählen – Zeugnisse aus Berlin aus der Zeit um 1400.

Die Familie, die um 1400 mit Blick auf den Molkenmarkt in einem hölzernen Haus wohnte, gehörte offensichtlich zu den wohlhabenden Berlinern. Diese Leute trugen gut gearbeitete, verzierte Schuhe aus feinem Leder mit Metallschnallen, selbst für das Baby gab es Lederschühchen. Sie kleideten sich in fein gewebte oder sauber gestrickte Wolle. Ein Seidenbändchen ist mit einem Knoten so erhalten, wie es Hände – man hat eine Dame im Sinn – vor 600 Jahren knüpften.
Auch ihr Haus war offenkundig komfortabel und gemütlich ausgestattet: mit bunten Butzenscheiben, fein geblasenen Glasgefäßen, deren Scherben sich ebenso erhielten wie Ofenkacheln.
Der jüngste Fund der Archäologen, die den Untergrund im Kerngebiet des mittelalterlichen Berlin rund um den Molkenmarkt untersuchen, holte Tausende Gegenstände ans Licht, allein 200 Kilogramm Fensterglas, so viel wie noch nie an einer Stelle. Die Objekte erzählen, wie Berliner jener Zeit lebten, was sie taten, wie sie sich kleideten, wie sie wohnten und was sie aßen.

Freigelegt wurde ein sieben mal drei Meter großer, mit Holz verkleideter Keller. Die Holzkonstruktion ragte bis zu vier Meter unter die heutige Geländeoberkante. Grundwasser konservierte organische Materialien wie Leder und Stoffe – „ein Glücksfall“, wie Eberhard Völker, Projektleiter der Grabung, bei der Vorstellung der Funde am Dienstag im Alten Stadthaus sagte. Die Stücke seien außergewöhnlich gut erhalten.
Voller Vorfreude auf die Ergebnisse bevorstehender genauer Untersuchungen der Fundstücke sprach Landesarchäologe Mathias Wemhoff von „Zeugnissen der Kultur Berlins, wie wir bisher keine anderen haben“. Es gebe keine Häuser mehr aus der Zeit um 1400 bis 1500, nur die steinernen Kirchen und Reste der Stadtmauer, ansonsten „wenig Konkretes, Materielles“. Die Frage, wer da wie wohnte, könne nun Antworten finden.
Er erinnerte daran, dass zu jener Zeit Berlin eine Stadt selbstbewusster Bürger war. Noch hatten die Markgrafen ihre Hauptresidenz nicht von Tangermünde an der Elbe an die Spree verlegt. Die Bürgerschaft und ihr schwunghafter überregionaler Handel machten die Stadt an der Spree so attraktiv, dass schließlich Kurfürst Friedrich II., genannt Eisenzahn, hier sein Schloss bauen ließ. „Die Geschichte Berlins beginnt nicht mit den Kurfürsten“, sagt Wemhoff: „Die Funde, die aus genau jener frühen Phase stammen, sind zentral für das Selbstverständnis der Bürger.“
Manches spricht dafür, dass das Haus mehrere Jahrzehnte genutzt wurde – womöglich konnten die Bewohner durch die Butzenscheiben sehen, wie nach der Grundsteinlegung für das „newe Sloss zu Cöln“ am 31. Juli 1443 auf der Spreeinsel das erste Berliner Schloss wuchs – gegen den Willen der Ratsherren. Das Wohnhaus stand in der Nähe des Großen Jüdenhofes, dessen Bauten allerdings erst etwa drei Jahrhunderte später entstanden. Spuren jüdischen Lebens konnten übrigens bislang nicht gefunden werden.
Zu den anrührenden Funden gehören 26 winzige Knochenwürfel und Murmeln aus Glas und Ton, die davon künden, wie diese Alt-Berliner, beziehungsweise ihre Kinder, spielten.

Die Hölzer der Kellerverkleidung – Pfosten und Bodenbalken aus Eiche sowie die Kiefernholzbretter der Wände – waren nur noch in Restspuren erhalten. Immerhin konnten Proben für die jahresgenaue dendrologische Altersbestimmung entnommen werden. Und das Ausgrabungsteam hat ein 3D-Modell des Fundortes erstellt, das viel besser als an Ort und Stelle die Situation verständlich macht.
Es zeigt auch, dass sich in einer Ecke des Kellers eine Grube befand, womöglich anfangs eine Latrine. Darin lag ein ganzes Sammelsurium von Gegenständen: Haushaltskeramik, 50 Ziegen- und Schafknochen, Reste von Katzen, Hunden, Pferden sowie Brustbeine von Geflügel, womöglich Reste vom Gänsebraten. Daneben Kirsch-, Pflaumen- und Pfirsichkerne sowie Wal- und Haselnüsse.

Der Rest eines hölzernen Steckkamms zeugt von der Anwesenheit von Damen. Sogar ein Schlittschuh kam zum Vorschein: gefertigt aus dem Vorderfuß eines Pferdebeines, versehen mit Bohrlöchern für die Schnüre, mit denen die Kufe unter den Schuh gebunden werden konnte.
Da kommt man der Antwort auf die Frage „Wer waren diese Leute?“ doch nahe.
Jahrelange Forschung mit inzwischen ausgefeilten wissenschaftlichen Methoden wird ganz gewiss weitere Erkenntnisse bringen. Und natürlich will das interessierte Publikum sehen, was es Neues aus alten Zeiten gibt. Man wird sich gedulden müssen, sagte Christoph Rauhut, Landeskonservator und Leiter des Landesdenkmalamtes. Zunächst werden die Funde im Eingangsmagazin des Denkmalamtes wissenschaftlich erfasst, dort erfolgen auch erste restaurierende Schritte, die vor allem sensible Materialien stabilisieren.
Als künftige Ausstellungsorte bieten sich in Berlin das Museum für Vor- und Frühgeschichte, das Märkische Museum und das kurz vor der Fertigstellung stehende neue Archäologische Haus am Petriplatz an. Auch im künftigen Quartier am Molkenmarkt werden Spuren der Vergangenheit in „kleineren und größeren archäologischen Fenstern“ zu sehen sein, wie Christoph Rauhut bestätigte: „Da sind wir positiv gestimmt.“
Kultursenator Klaus Lederer sagte: „Das ist verabredet“, doch sei ja erst die Hälfte des mehr als 20.000 Quadratmeter umfassenden Areals ausgegraben. „Wir wissen ja nicht, was noch kommt.“ Am Ort der jüngsten Funde jedoch gebe es nichts zu zeigen, da sei nichts mehr.
Die Grube, die die für Berlin einzigartige Menge und Vielfalt von Alltagsobjekten barg, wurde allem Anschein nach in kürzester Zeit verfüllt. Warum? Auch das bleibt eine zu klärende Frage. Jedenfalls setzte an dieser attraktiven Stelle bald rege Bautätigkeit ein und eine historische Schicht kam auf die andere, auch jetzt werden den Archäologen Bauarbeiter folgen. Man darf gespannt sein.