Auf der Cuvrybrache: Zwischen Zelten, Hütten und Müllbergen
Berlin - Wenn man nicht so genau hinsieht, ist es fast idyllisch auf der Brachfläche an der Kreuzberger Cuvrystraße. Am Spreeufer sitzt ein junges Paar, sie haben sich ihr Mittagessen mitgenommen und genießen den Ausblick aufs Wasser. Zwei adrett gekleidete Männer mittleren Alters sitzen auf der Ufermauer und unterhalten sich. Wie in so vielen hier geführten Gesprächen geht es auch bei ihnen um das Gelände, das seit Jahren brach liegt und eigentlich schon längst mit neuen Wohnhäusern bebaut sein sollte. Doch davon ist noch nichts zu sehen.
Einige Männer sitzen auf alten Sofas, lachen laut und hören Musik, fröhliche Musik, einer von ihnen fängt leicht beschwipst an zu tanzen. Die Gruppe scheint öfters hier zu sein. Ein kleiner schwarzer Hund läuft umher und knabbert an alten Teppichen. Am unteren Teil der großen Hauswand, an der das bekannte Wandbild des italienischen Street-Art-Künstlers Blu prangt, machen sich junge Sprayer zu schaffen. Was genau sie dort mit ihren Farbdosen fabrizieren, lässt sich nur schwer sagen. Bald werden ihre Graffiti ohnehin von neuen Hobbykünstlern übermalt sein. Das Gelände verändert sich jeden Tag.
Sieht man genauer hin, überkommt einen ein Gefühl zwischen Faszination und Sprachlosigkeit. Zwischen Zelten und selbstgebauten Holzhütten türmen sich Berge von Müll, braunen Nadelbäume, Holzplatten, verrosteten Gegenständen, Flaschen und alten Möbelstücken auf.
Wer heute über die Brachfläche geht, empfindet mitunter das starke Verlangen, diese surreale Szenerie zu fotografieren - besonders Touristen machen das gerne. „No Fotos Welcome!“, fordert ein Schild am Eingang die Besucher zur Zurückhaltung auf – gemacht werden sie trotzdem. Der Reiz ist einfach zu groß. Plakatierte Bauzäune begrenzen das etwa 10.000 Quadratmeter große Areal, besser bekannt als Cuvrybrache.
Vor zwei Jahren geriet sie in die Schlagzeilen, weil hier ein Kulturprojekt der New Yorker Guggenheim-Stiftung entstehen sollte. Die Anwohner protestierten, das Guggenheim Lab zog nach Prenzlauer Berg um. Der Aktivismus, die ehemalige Wiese nicht den Investoren zu überlassen, ist wieder gepflegter Gleichgültigkeit gewichen - zumindest bis die Bagger vorfahren.
Denn der private Eigentümer des Geländes, ein Investor aus München, hat bereits eine Baugenehmigung. „Unser Bestreben liegt derzeit darin, die ehemals gewerblich vorgesehene Nutzung der Fläche in eine zum Hauptteil wohnliche Nutzung umzuwandeln“, erklärt Daniel Mamrud, Sprecher der Eigentümergesellschaft Nieto GmbH.
Investor verhandelt über Wohnungsbauförderung
Im Klartext bedeutet das, etwa 250 Wohnungen sollen entstehen, dazu eine Kindertagesstätte und ein Supermarkt. Das genehmigte Bauvolumen sei zudem deutlich höher als die angestrebte Bebauung, sagt Mamrud. Zudem wolle der Investor einen etwa 20 Meter breiten Grünstreifen am Spreeufer stehen lassen. Derzeit verhandle er mit dem Senat über eine mögliche Wohnungsbauförderung.
All das dürfte den Menschen, die derzeit auf dem Gelände leben oder sich zumindest täglich dort aufhalten, ziemlich egal sein. Sie haben andere Probleme. Möchte man mit ihnen über ihre persönliche Situation reden, reagieren viele zunächst skeptisch. „Du bist für mich erst mal keine Vertrauensperson“, sagt zum Beispiel Artur. Dann erzählt er aber doch ein wenig von sich.
Er sei erst seit gestern hier. Irgendein Musiker mit Gitarre habe ihn mit hergenommen. Auf der Brache scheint jeder willkommen zu sein, doch der Platz wird langsam knapp - nicht zuletzt durch den vielen Unrat. „Im Winter habe ich auch in der U-Bahn geschlafen“, erzählt er. Woher er stammt? „Meinst du, wo ich geboren bin?“ Wo er sich beheimatet fühle? „Ich bin in der Welt zuhause“, antwortet er und lächelt. Ursprünglich kommt er aus Albanien. Sein Deutsch ist sehr gut, aber man hört auch sehr viele osteuropäische Sprachen auf dem Gelände.
Die Möglichkeit, in einer Hütte oder einem Zelt auf der Cuvrybrache zu übernachten, gefällt Artur sehr gut. Auch wenn er einige Menschen hier eher suspekt findet, weil sie seiner Meinung nach psychische Probleme haben. „Bald wird es ja auch wärmer“, sagt er und fegt Dreck mit einem kleinen Handbesen beiseite. Wie lange er noch bleiben wird, weiß er wohl selbst nicht so genau.
Auf der anderen Seite des Geländes hämmern einige junge Männer auf dem Dach einer Hütte herum. „Hier hat's reingeregnet“, erklärt Flippi, wie ihn alle nennen. Er wirkt wie der Kopf der Gruppe, auch wenn es hier keine festen Hierarchien oder Gruppen zu geben scheint. Auch er ist zunächst etwas abweisend, taut aber schnell auf und zeigt sogar sein selbstgebautes Hochbett. Was für „normal“ wohnende Menschen nach einer dreckigen Notunterkunft aussieht, haben die alternativen Cuvrybewohner mit viel Schweiß und Arbeit zusammengezimmert – darauf sind sie stolz, das merkt man ihnen an. „Wir haben sogar eine Bar“, sagt er und zeigt auf eine Holzkonstruktion.
Daneben stehen zahlreiche Gläser. Auf einer Couch sitzen seine Mitbewohner, sie grüßen freundlich. Ein Junge fegt rauchend den Dreck weg. Flippi wohnt nach eigener Aussage nur manchmal hier. „Ich reise gerne“, erzählt er und zupft an einer Plane, die als Dach und Regenschutz dient. Die Mischung der Leute gefalle ihm. „Klar gibt es ab und zu mal Streit, aber den gibt es in einer normalen WG ja auch.“
Flippi scheint zufrieden zu sein, mit dem was er hat. Dank Spenden von Anwohnern und mit Hilfe von Unterstützern der Brache meistern die Bewohner den Alltag auf der Brache. „Am Wochenende und abends feiern wir hier immer. Im Sommer waren viele Leute hier und haben Party gemacht“, erzählt er. Dass hier irgendwann gebaut wird, weiß er. Viel dazu zu sagen hat er allerdings nicht.
Der Bezirk ist überfordert
Die Situation ist schwierig, das weiß auch der Eigentümer der Fläche. „Wir müssen mit viel Fingerspitzengefühl an die Sache herangehen“, sagt Sprecher Daniel Mumrad. Ein Versuch, mit den Betroffenen in den Dialog zu treten, scheiterte im vergangenen Sommer. Die angekündigte Diskussionsrunde musste abgebrochen werden. Einen neuen Versuch gab es nicht. Ein ernsthafter Austausch zwischen Bewohnern und Besitzern scheint mittlerweile unmöglich. Und auch eine Räumung scheint derzeit unmöglich. Doch sie wird kommen, so viel ist sicher.
Der Bezirk ist schon lange nicht mehr zuständig. "Die Brache ist natürlich sehr präsent, weil sie so öffentlich sichtbar ist", sagt Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann. "Es gibt in Berlin aber viele versteckte Orte, wo Menschen leben. Sie wohnen in fast jedem Bezirk in Hausruinen. Darum brauchen wir in Berlin ein Zuwanderungs- und Flüchtlingskonzept."
Die Bezirke allein seien mit der Situation überfordert. "Senat und Bezirke müssen gemeinsam ein Konzept erarbeiten", fordert die Grünenpolitikerin. Mit der Debatte um den Oranienplatz wurde das Thema zuletzt sehr auf ein "Kreuzberger Problem" reduziert - dabei betrifft es die ganze Hauptstadt, genau wie die Diskussion um den immer knapper werdenden Wohnraum.
Auf der Cuvrybrache wird es langsam schummrig. Was nachts passiert, bleibt oft im Verborgenen, denn wenn es dunkel wird, trauen sich weniger Touristen auf die Fläche mitten im angesagten Kreuzberger Kiez. Als zwei Mädchen Fotos machen wollen, greift der kleine Sohn einer hier campierenden Roma-Familie ein und schaut erzürnt. „One picture, one Euro!“, fordert er lautstark. „No Pictures!“, schreit er dann mit gebrochenem Englisch. Fotos werden trotzdem gemacht. Der Reiz ist einfach zu groß.