Mit einem Buch auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Zeitreisen sind anstrengend, aber immerhin Reisen, Am schnellsten beamen uns Bücher in andere Epochen. Start in einem Antiquariat.

Manche Bücher verwandeln uns in Zeitreisende.
Manche Bücher verwandeln uns in Zeitreisende.Imago/Alexander

Berlin-Nollendorfplatz. Ein Name, in dem Zeit und Raum zusammenschnurren und sich zugleich weiten bis zu den ganz fernen Galaxien. Nicht nur Kästners Werk kommt mir augenblicklich in den Sinn – Emil, Pony Hütchen, Gustav mit der Hupe und die ganze Bagage –, sondern auch ich selbst als Studentin. Immer auf der Jagd. Gänzlich unbewaffnet, nur mit einer inneren Liste. Titel um Titel stand darauf, Name um Name, darunter Platz für neue Begierden.

Manchmal denke ich, ich habe in meinen Studienjahren mehr Zeit in Antiquariaten verbracht als mit Lesen. Wenn man die Wanderungen mit den Augen nicht mitzählt, den Kopf in den steifer werdenden Nacken gelegt. Und wie die Bergluft verlässt einen auch der Duft alter Bücher nie mehr. Den Geruch eines Antiquariates erkenne ich mit geschlossenen Augen. Er setzt sich zusammen aus dem Muff der Jahre und Jahrzehnte, aus Druckertinte und altem und neuem Papier. Dazu der Antiquar, je nach Jahrgang. Holz mischt sich hinein, manchmal Teppich, Staub.

Wenn dieser Duft, denn immer ist es Duft, nie Mief, mir in die Nase steigt, fliege ich augenblicklich zurück in die Hörsäle und Bibliotheken (die olfaktorischen Verwandten der Buchläden), in die Mensa und vor den Computer, der damals noch aus zwei feisten Kästen bestand, einer auf dem Tisch und einer darunter. Sammelte sich Staub in den Luftschlitzen, roch er auch. Nach Arbeit, Wissenschaft und Vernachlässigung.

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Und ich reise zu Johann Nadelmann. Denn so sehr ich das Studium, die Recherche, das Seminar liebte, der Drang, mit den Händen etwas Sichtbares, Greifbares zu schaffen, wuchs. Also eröffnete ich mit einem Freund selbst ein Antiquariat.

Die Gerüche der Stammkundschaft kamen hinzu. Rasierwasser und Parfüm, Shampoo, feuchte Kleidung und, auch wenn es seltsam klingt, der Duft der Demut. Zu den nachhaltigsten Bildern dieser Jahre gehören altersfleckige Hände, die voller Zärtlichkeit ein vergilbtes Heft betasten. Feuchte Augen bei der Entdeckung eines lange gesuchten Werkes, die den inneren Kampf widerspiegeln: Kann ich mir das leisten? Was wird die Gattin, wird der Mann sagen? Für immer verdrängt habe ich die Erinnerungen an gierige Feilscher und Händler, denen es einzig ums Geschäft ging. Halunken, die nur den Mantel des Büchernarren trugen. Er stinkt zum Himmel. Zum Glück waren solche Kunden selten.

Antiquariate sind meine Proust’schen Madeleines. Im Strudel der Neuerscheinungen habe ich diese Orte vernachlässigt in den letzten Jahren. Vielleicht aber auch, weil Zeitreisen anstrengend sind. Doch es sind immerhin Reisen, ohne Grenzkontrollen und ohne Gepäck. Zumindest auf dem Hinweg. Zurück wird sehr bald ein Erich Kästner in der Tasche sein, ein von der Zeit gezeichnetes Heftchen oder sogar Proust, der zuverlässigste Gefährte auf der Suche nach vergangenen Tagen.