Schwules Leben in der DDR: „Coming Out“ am Originaldrehort in Pankow

Heiner Carows berühmter Film von 1989 wird am Originalschauplatz gezeigt. Mit dabei sind die Hauptdarsteller und queere Jugendliche, zwei Generationen und ein Anliegen: Gleichberechtigung.

Back to school: die Hauptdarsteller Matthias Freihof (rechts) und Dirk Kummer vor dem Carl-von-Ossietzky-Gymnasium in Berlin-Pankow
Back to school: die Hauptdarsteller Matthias Freihof (rechts) und Dirk Kummer vor dem Carl-von-Ossietzky-Gymnasium in Berlin-PankowMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Konrad Schaller hat geschafft, was wohl nur wenige Lehrkräfte ohne Androhung hinbekommen: Der 31-jährige Lehrer am Carl-von-Ossietzky-Gymnasium in Pankow hat an einem Montagabend die Schulaula gefüllt mit Schülerinnen und Schülern, Lehrpersonal und Erwachsenen für einen Filmvortrag und eine anschließende Podiumsdiskussion.

Nach 35 Jahren wieder zur Schule

Was zunächst klingen mag wie ein Abend mit Einschlafgarantie, war ein so charmantes wie cleveres Lehrstück über Selbstfindung und queeres Leben in den letzten Tagen der DDR. Es ging um das Coming-out in einer Gesellschaft, die in Ost wie West meilenweit davon entfernt war, ihre Minderheiten mit Respekt und Toleranz zu behandeln.

Dass sich für Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transpersonen viel geändert hat, ist auch Dirk Kummer und Matthias Freihof zu verdanken, die beide im Foyer des Gymnasiums stehen an diesem nasskalten Montagabend. Hier waren die beiden Schauspieler schon mal, das ist fast 35 Jahre her. Die Schülerinnen und Schüler, mit denen sich die Schauspieler diesen Abend teilen, waren noch nicht geboren, ihr Lehrer Konrad Schaller ebenfalls nicht.

Auf seine Initiative hin wurde am Montag der queere Klassiker „Coming Out“ von 1989 gezeigt. Es war der erste Film der DDR, der sich explizit mit dem Thema Homosexualität auseinandersetzte. Und zugleich der letzte, denn am Abend der Premiere im Kino International fiel die Mauer. Die DDR war Geschichte, der Film unter der Regie von Heiner Carow („Die Legende von Paul und Paula“) ist indes bis heute ein so authentisches, zärtliches und oft subversives Zeugnis einer schwulen Selbstfindung.

Ein Szenenfoto aus „Coming Out“ im Treppenhaus des Gymnasiums: links Dirk Kummer als Matthias, rechts Matthias Freihof als schwuler Lehrer Philipp
Ein Szenenfoto aus „Coming Out“ im Treppenhaus des Gymnasiums: links Dirk Kummer als Matthias, rechts Matthias Freihof als schwuler Lehrer PhilippMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Erzählt wird die Geschichte des jungen Lehrers Philipp (Matthias Freihof), der sich zuerst in seine Kollegin Tanja (fantastisch: Dagmar Manzel) und dann in den jungen Matthias (Dirk Kummer) verliebt. Philipp erkennt, dass ihm der Sex und die Zuneigung des Jungen mehr geben als seine Liebe zu Tanja. Er quält sich, verletzt sich und andere. Am Ende kommt er mit sich ins Reine und so wird aus einem Coming-out auch ein Coming of Age.

Der Film ist auch nach über drei Jahrzehnten immer noch hinreißend, ein mal auch zähes, aber sehr facettenreiches Dokument: Rassismus, lesbische Sichtbarkeit, dröge Hetero-Norm und der repressive Staat werden ebenso thematisiert, ohne belehrend zu sein, wie die Selbstfindung des jugendlichen, oft träumerisch wirkenden Protagonisten.

Das Publikum des voll besetzten Saales ist gekommen, um die beiden berühmten Schauspieler zu sehen. Darunter ehemalige Schüler des Gymnasiums, auch solche, für die der Film Initialzündung für das eigene Coming-out war, wie Freihof nicht ohne Stolz erzählt. Im Publikum spürt man sie deutlich, die Freude über die Anwesenheit der Schauspieler, die das Gymnasium in dem wilhelminischen Prachtbau ein bisschen unsterblich gemacht haben, obwohl man es von außen im Film nur selten zu sehen bekommt. Dafür die Aufgänge, Flure und Klassenräume, was das Publikum jedes Mal freut, wenn Phillip im Film durch die Flure hetzt, weil er nach einem durchgetanzten Abend in der Schwulenkneipe Burgfrieden oder nach seinem ersten Mal mit Matthias zu spät zum Unterricht kommt.

Der Film in der Aula des Gymnasiums: queere Geschichte auf halbgroßer Leinwand
Der Film in der Aula des Gymnasiums: queere Geschichte auf halbgroßer LeinwandMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Sieben Jahre brauchte Heiner Carow, um die Defa von seinem Projekt zu überzeugen. Keine Sekunde brauchte der eben von der Schauspielschule kommende Matthias Freihof 1988, um die Rolle des Philipp anzunehmen, die der berühmte Regisseur ihm anbot. „Ich hätte auch einfach nur ein Tablett für Carow durchs Bild getragen“, sagt Freihof nach der Vorführung auf dem Podium der Aula. Er sitzt nach der Vorführung nun in der Mitte neben Dirk Kummer. „Das sicherlich queerste Podium dieser Schule“, scherzt Schaller. Dabei sitzen Dr. Ringo Rösener von der Uni Leipzig, seine Kollegin Lotta Thaa von der FU Berlin sowie die beiden Schülerinnen Luise und Isabella aus der LGBTQIA+-AG der Schule.

Es geht um die Themen des Films, seine Wirkung auf die Jugendlichen, lesbische Sichtbarkeit, den Paragrafen 175 (in der DDR bereits 1988 abgeschafft) und die Schwierigkeiten, die Carow mit dem Projekt hatte. Es geht auch um die Frage, wie viel sich seitdem für die queere Community geändert hat. Und damit das kein Abend wird, an dem Erwachsene Jugendlichen von oben ihre Welt erklären, hat Konrad Schaller zwei queere Mädchen aus seiner Schule mit aufs Podium geholt. Wie viel sich wirklich seit 1989 geändert hat, zeigen ihre Beiträge.

Die beiden 16-Jährigen reden selbstbewusst über ihre Situation und die Privilegien, die ihre Bubble in einem Land wie Deutschland hat, nur wenige Flugstunden entfernt von Gebieten, wo LGBT-Menschen noch immer verfolgt und ermordet werden. Luises und Isabellas Reflektiertheit ist so beeindruckend und erfrischend, dass das Publikum nicht nur den Heimvorteil mit Applaus belohnt, sondern auch den Weg, den es gebraucht hat, dass zwei Teenager in Sicherheit über ihr Anderssein reden können. Das ist auch der Verdienst von „Coming Out“.