Berghain in Berlin-Friedrichshain: Geschichte und Bedeutung eines einzigartigen Clubs
Berlin - Man kann hier hundertmal, tausendmal emporgestiegen sein. Aber man wird immer noch überwältigt von der Größe des Raums, von der Erhabenheit der Architektur, von den warm-harschen Wellen aus Klang, die einem von oben entgegenschlagen und den Körper umhüllen, durch die Knochen und in die Stirn kriechen und die Nasenflügel zum Flattern bringen.
Fast zwanzig Meter hoch ist die Decke im großen Saal des Berghain. Zur rechten Seite wird die Tanzfläche von einer großen Glaswand begrenzt, hinter der sich ein Tresen befindet; zur linken Seite führt eine weitere Stahlgittertreppe zur Panorama Bar hinauf: zu einer zweiten Tanzfläche vor großen Fenstern, die direkt auf die Seite des Sonnenaufgangs weisen. Bald zwölf Jahre gibt es das Berghain nun schon. Man kann hier hundertmal, tausendmal gewesen sein. Man wird immer wieder neue Details an diesem Gebäude entdecken und neue Orte darin, unbekannte Gänge, verborgene Seiten.
Früher war das Gebäude ein Heizkraftwerk: Anfang der 1950er Jahre errichtet, versorgte es die Arbeiterpaläste der nahen Stalinallee mit Wärme und Strom. Die beiden Besitzer des Berghain haben das Haus mit dem Berliner Architekturbüro Studio Karhard umgebaut und den neuen Klub gewissermaßen direkt in den alten Industriebau gemeißelt, geschweißt und gelötet; viele Details der Ausstattung und der Interieurs haben sie übernommen und sich anverwandelt.
In Berlin war alles möglich
Im Berlin der Nachwendezeit war diese Art der architektonischen Anverwandlung die Regel. So gut wie alle prägenden Klubs und Konzertsäle der Neunziger- und Nullerjahre sind durch die Umnutzung von alten Gebäuden entstanden, vom Technoklub Tresor im Tresorraum eines aufgelassenen Warenhauses an der Leipziger Straße bis zur Columbiahalle in einem früheren Kino der US-amerikanischen Streitkräfte. Auch die ersten Veranstaltungen, die die späteren Betreiber des Berghain in den Neunzigerjahren organisierten – schwule Fetisch-Sex-Partys mit musikalischer Untermalung –, fanden an Orten statt, die ursprünglich nicht für diese Verwendung vorgesehen waren, zum Beispiel in einem Hochbunker in der Nachbarschaft des Deutschen Theaters.
Ihren ersten dauerhaften Klub, das Ostgut, eröffneten die Berghain-Betreiber 1998 in einem ehemals als Lagerhalle genutzten Schuppen auf dem Gelände eines Rangierbahnhofs. 2003 wurde das Ostgut geschlossen, das gesamte Gelände wurde planiert und neu bebaut – unter anderem mit der Mehrzweckhalle am Ostbahnhof, die ihren Namen an wechselnde Großkonzerne verkauft und in funktional-indifferentem Ambiente unterschiedliche Arten von Sport-, Pop- und anderen Großveranstaltungen beherbergt.
Verbote und Freiheit
Anders als dieser kulturelle Nicht-Ort schlechthin, ist das Berghain unübersehbar ein historisch gewordener Ort; ein Gebäude, dessen Aura nicht zuletzt daraus rührt, dass es offensichtlich nicht für jenen Gebrauch erschaffen wurde, den man jetzt von ihm macht. Seit der Eröffnung im Dezember 2004 werden hier an den Wochenenden Techno- und House-Partys veranstaltet; wer sich dem Gebäude nähert, trifft meist auf eine lange Schlange von Menschen, die auf Einlass warten. Viele warten allerdings vergeblich, denn die Türsteher pflegen nur eine Auswahl an Bewerbern ins Haus zu lassen. Wer hinein darf, muss sich als Nächstes die Linse seiner Taschentelefonkamera zukleben lassen, da im Berghain ein striktes Fotografierverbot herrscht.
So setzt sich die abweisende Erscheinung des Hauses in der Strenge der Ge- und Verbote fort, die seinen Besuchern auferlegt werden. Erst durch diese kann jedoch jene Freiheit entstehen, die für das Berghain charakteristisch ist und die aus der Anonymität resultiert, die es seinem Publikum schenkt – die Freiheit, sich zu kleiden, wie man will oder auch gar nichts zu tragen; die Freiheit zu entscheiden, wie, mit wem und an welchen Orten man sich in sexueller oder sonstiger Weise verhält.
Wer an den Türstehern des Berghain vorbeigelangt ist und sich die Kameralinse hat zukleben lassen, kommt durch ein dunkles Foyer zu einer gewaltigen Treppe aus Stahl, auf der man, sich einmal um sich selbst drehend, in die Höhe steigt; oben angekommen, steht man direkt auf der Tanzfläche. Der DJ ist vor den Blicken jedoch fast verborgen. Er thront nicht auf einem Podest oder wird sonst wie ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt; sein Pult steht ebenerdig, unbeleuchtet und unscheinbar in der rechten hinteren Ecke des Saals.
Dass die DJs kaum zu sehen sind, hat seinen Grund: Die Gäste sollen sich ganz auf sich selbst konzentrieren, auf die Musik, die sie zum Tanzen bringt, und auf die gewaltigen Bässe, die ihre Körper durchströmen. So wie die Besucherinnen und Besucher manchmal für Tage in dem streng bewachten, schwer befestigten, blickdichten Gebäude verschwinden, so verschwinden auch die Musiker, Produzenten und DJs dort in ihrer Musik und in den davon angeregten Bewegungen und Tänzen. Und wo wie das Publikum, dem kalten Blick der Kameralinse entzogen, zu neuen Arten der körperlichen Präsenz findet, so können sich auch die Künstler vom Diktat überkommener Formen befreien und neue Arten der musikalischen Darbietung erproben.
Dezentrierung und Verflüssigung
Spätestens seit Ende der Nullerjahre ist das Berghain nicht nur ein Klub im klassischen Sinne, sondern auch ein Ort für Bildende Kunst und Performances, Installationen und multimediale Ereignisse. Und für Konzerte: Von den prägenden Popkünstlerinnen und -künstlern der letzten Dekade haben fast alle hier einmal gespielt, von James Blake bis zu SunnO))), vom Animal Collective bis zu Grimes, von Flying Lotus bis Julia Holter. Manche Konzerte werden werktags am frühen Abend veranstaltet und damit von den Klubnächten am Wochenende getrennt. Oft vermischen sich beide Darbietungsformen aber auch; ob man einem Konzert oder einem DJ-Set oder einer audiovisuellen Installation folgt, ist dann nur noch schwer zu entscheiden.
„Rituale des Verschwindens“ heißt ein großes Tableau des Künstlers Piotr Nathan, das man im Eingangsfoyer des Berghain passiert, bevor man auf der Stahltreppe zur Tanzfläche hochsteigt. Vielleicht ist dies – das Verschwinden und die Techniken und Rituale, die das Verschwinden organisieren und zurück in neue Arten der Präsenz überführen – der Kern der für diesen Ort charakteristischen Ästhetik. Wenn die Dezentrierung und die Verflüssigung für den Pop der Gegenwart wesentlich sind, dann ist das Berghain dafür eine emblematische Stätte: Die Inszenierung der Musik und ihre Beziehung zum Publikum sind hier grundlegend offen; so entsteht ein Schutzraum für Neuerfindungen jeglicher Art, in dem die Künstler wie die Gäste wenigstens für die Dauer von Momenten von dem Zwang entbunden werden, mit sich selbst identisch sein zu müssen – Momente der Freiheit, wie man sie nur hinter dicken, gut bewachten Mauern erlebt.
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Jens Balzer liest am 21. Juli 2016 in der Kantine am Berghain aus „Pop – Ein Panorama der Gegenwart“.