Corona-Pandemie: Beginnt in Berlin schon die Sommerwelle?
Die Inzidenz in Berlin steigt wieder. Spüren die Hausarztpraxen in der Stadt das schon? Wie ein erfahrener Mediziner die Lage einschätzt.

Berlin - Das Flatterband ist noch da. Es markiert jeden zweiten Stuhl im Wartezimmer von Wolfgang Kreischer, dem Hausarzt in Zehlendorf. Das Band signalisiert seinen Patienten: Abstand halten! Masken sind obligatorisch, auch das hat sich während der Corona-Pandemie nicht geändert. „Ansonsten“, sagt Kreischer, „haben wir fast Normalbetrieb“.
In den sozialen Netzwerken ist ein Streit entbrannt, ob die Abschaffung aller Beschränkungen nicht zu früh sei und darüber, was im Herbst zu erwarten sei. Auf der einen Seite ist von „Corona-Relativismus“ die Rede, werden „Verharmlosungsmechanismen“ angeprangert. Mancher erkennt schon jetzt im Infektionsgeschehen den Beginn einer neuen Corona-Welle. In den steigenden Zahlen; bis Dienstagfrüh kamen in Berlin binnen 24 Stunden 3045 neue Fälle hinzu. Die andere Seite spricht von „Panikmache“, führt zum Beispiel die Hospitalisierungsrate an; 4,7 Berliner Klinik-Patienten auf 100.000 Einwohner wurden aktuell positiv auf Corona getestet. Eine Annäherung der beiden Seiten findet nach wie vor nicht statt.
Vermutlich würden sie sich in der Mitte treffen, wenn sie miteinander kommunizieren würden. Wenn sie auf die Basis schauten. Dorthin, wo Wolfgang Kreischer arbeitet. Er ist einer von rund 3000 Hausärzten in der Hauptstadt und Vorsitzender ihres Verbandes. Kreischer sagt über die aktuelle Corona-Lage: „Wir haben vor allem leichte Fälle. Die Geimpften haben mehr oder weniger leichte Symptome. Diejenigen ohne Impfung sind meist etwas länger und heftiger krank.“ In ein Krankenhaus einweisen musste der Mediziner schon länger niemanden mehr.
Kreischer impft nach wie vor, wobei die Nachfrage deutlich nachgelassen hat. Im ersten Quartal 2021 verabreichte er in seiner Praxis 15.000 Dosen, im Vergleichszeitraum 2022 waren es nur noch an die 200. „Es handelte sich dabei überwiegend um Auffrischungsimpfungen.“ In Berlin beträgt die Impfquote altersübergreifend 78,4 Prozent, eine Auffrischung haben 61,4 Prozent erhalten.
Pollenallergie: 2022 ist ein Mastjahr
Zwei bis drei Patienten mit einem milden Infektionsverlauf suchen täglich die Zehlendorfer Praxis auf. Ebenso viele kommen mit Erkältungssymptomen. „Wir verzeichnen mehr Infekte wie zum Beispiel Grippe als sonst“, sagt Kreischer, „ich würde aber nicht von einer Grippewelle sprechen.“ Das Robert-Koch-Institut (RKI) registrierte von Ende April bis Ende Mai einen zwischenzeitlichen Anstieg bei Influenza, der sonst typisch für die Wintermonate ist und mit den Lockerungen der Corona-Schutzmaßnahmen zeitlich zusammenfiel. Seitdem flacht die Kurve deutlich ab. Im Augenblick, schreibt das RKI, werden die aktuellen Atemwegsinfekte vor allem von Erkältungsviren ausgelöst.
Auch bei den Pollenallergien ist die Lage nicht mehr so angespannt wie noch vor einigen Wochen. 2022 gilt als ein sogenanntes Mastjahr. Solche Jahre wiederholen sich in unregelmäßigen Abständen. Dann bringen Bäume besonders viele Samen hervor, die allergische Reaktionen auslösen können. Vor allem Eschen zeigten sich bis zum Mai sehr aktiv, ebenso Eiche, Buche und Fichte. Denn 2021 war ein schwaches Pollenjahr, die Blüte fiel deshalb diesmal stärker aus. Im Frühling 2022 fiel zudem wenig Regen in der Region, der die Erreger in der Luft auswäscht.
Kreischers Praxis ist so oder so ausgelastet, sie war es während der ganzen Pandemie. „Nur vereinzelt sagen mir Patienten, dass sie wegen Corona ferngeblieben sind, aber in der jetzigen Situation wieder kommen“, sagt der Hausarzt. „Ein Problem ist, dass wir Patienten seit dem 1. Juni nicht mehr telefonisch krankschreiben können.“ Das erfordert wieder eine gute Logistik. „Bei Symptomen, die auf Corona hindeuten, bestellen wir die Leute zu Randzeiten ein, also am Anfang oder Ende einer Sprechstunde“, sagt Kreischer. „Wir Hausärzte haben inzwischen eine gewisse Routine im Umgang mit dem Coronavirus entwickelt, verfügen über eingespielte Pfade.“ Dennoch warnt er vor allzu großer Sorglosigkeit: „Wichtig ist, dass wir uns schon jetzt auf eine neue Welle vorbereiten, auch wenn wir noch nicht vorhersehen können, wie schwer sie uns treffen wird.“
Das gilt auch immer noch für eine andere Welle, für Long Covid. Rund 200 Symptome sind unter diesem Syndrom zusammengefasst. „Viele meiner Patienten sind erschöpft, mutlos, allerdings nicht immer wegen der zweieinhalb Jahre Pandemie, sondern immer häufiger auch wegen der politischen Lage und des Kriegs in der Ukraine“, sagt Kreischer. Was ist eine allgemeine Verstimmung, was wurde durch eine Infektion mit Sars-CoV-2 verursacht? „In dieser Frage lernen wir mehr und mehr dazu.“ Die Medizin lernt zu unterscheiden. In den sozialen Netzwerken scheint das manchem noch schwerzufallen.