Berlin: Darum verfielen in der DDR so viele Altbauten

Zuerst zogen die Mieter aus den obersten Geschossen aus und die Tauben ein. Die Dächer waren nicht dicht. Dann übernahm die Feuchtigkeit das darunterliegende Stockwerk, bis schließlich nur noch das Parterre bewohnt war. Dafür logierte man dort in vier Zimmern auf 105 Quadratmetern für 96 Mark der DDR. 91 Pfennige pro Quadratmeter. Waren die Mieter gewichen, rückten die Schwarzwohner an, meist junge Leute, die den Begriff „unbewohnbar“ dehnten. Draußen schützten Gerüste und Bretter die Passanten auf der Straße vor herabfallendem Putz und abstürzenden Bauteilen.

Die FDJ greift ein

Der Staat unternahm Verzweiflungstaten, um den Verfall zu bremsen: Unter dem Motto „Wir steigen den Dächern aufs Dach“ sollten im sozialistischen Wettbewerb zum 35. Geburtstag der DDR Dachdecker-Feierabendbrigaden der FDJ den Bestand bewahren. Was als Kreisjugendobjekt in Prenzlauer Berg 1984 begann, wurde im selben Jahr noch als Wettbewerb zum XI. Parteitag der SED zum Programm „Dächer dicht auch in der zweiten Schicht“ geadelt. Das Ziel: Bis 1988 ist alles erledigt.

Der Grund für den Verfall lag auf der Hand: Mit 90 Pfennig Miete pro Quadratmeter (für Altbauten mit Klo auf halber Treppe und Kohleöfen 70 bis 80 Pfennig) war keine Reparatur, keine Sanierung, kein Erhalt der Bausubstanz zu leisten – auch nicht ansatzweise. Provisorisch reparierte Kriegsschäden blieben Dauerzustand. An Modernisierungen war nicht zu denken. Für den Mieter war das prima –solange das Haus nicht einstürzte und er in Privatinitiative hier und da heimwerkeln konnte. Für Hauseigentümer, auch staatliche, war das ein Graus, sie konnten den Besitz unter diesen Umständen nicht verantwortungsvoll betreuen. Reihenweise schlugen Familien das Erbe aus, wenn eine Immobilie auf sie kam. So landeten viele Häuser in „Volkseigentum“. Aber auch der Staat hatte weder Geld noch Arbeitskräfte noch Baumaterial. Das wenige Verfügbare steckte er in die Plattenbausiedlungen auf der grünen Wiese; dort ließ sich klotzen. Die Innenstädte wurden geopfert.

Wohnungsvergabe belohnte und privilegierte

Die strukturelle Ursache für die Unfähigkeit lag in einem Erbe aus nationalsozialistischer Zeit. Die sowjetische Besatzungsmacht und nach 1945 die DDR hatten das 1936 erlassene Mietstoppgesetz, das die deutsche Familie vor steigenden Wohnkosten schützen sollte, komplett übernommen, geringe Änderungen betrafen nicht den Inhalt.

Über den fortgeltenden, die Preise dauerhaft einfrierenden Mietenstopp hinaus griff die DDR auch über die staatliche Wohnraumlenkung in den Markt ein: Der Staat beanspruchte die vollständige Verfügungsgewalt über die Wohnungsvergabe.

Die Zuteilungsideologie richtete sich anfangs nach sozialen Gesichtspunkten. NS-Verfolgte, Kinderreiche und Invaliden sollten bevorzugt versorgt werden. Doch rasch drängten sich ein anderes Kriterium vor: die Nützlichkeit des Bewerbers. Man bevorzugte Aktivisten, Bestarbeiter und Intelligenzler.

Betriebswohnungskommissionen traten als Mitentscheider hinzu. Wohnungsvergabe diente nun der Arbeitskräftelenkung – Produktive nah an die Arbeitsplätze, Unproduktive, wie Rentner, weg davon. Sozial gerecht war das nicht. Die Zuteilung belohnte und privilegierte.

Eigenbedarfsklagen nur mit Ersatzwohnraum

Das Volks nannte die investitionsfreie Wohnungspolitik „Ruinen schaffen ohne Waffen“. Der schwedische Ökonom Assar Lindbeck – ein Sozialist – bewertete Mietpreisbremsen auch mit Blick auf die Zustände am Ende der DDR als eines der effektivsten Mittel zur Zerstörung von Städten – nur die flächendeckende Bombardierung einer Stadt hätte schlimmere Auswirkungen. Die staatliche Statistik räumte die Katastrophe sogar ein, als sie 1971 den Bauzustand von nur einem Fünftel aller Wohnungen als „gut“ einstufte. Der Rest war Verwahrlosung.

Anders als in anderen Wirtschaftsbereichen strebte die DDR-Regierung keine Sozialisierung der Wohnungswirtschaft an. Der Privatbesitz von Wohnraum wurde nicht aktiv angetastet. Wer den Mut zum Häuschenbau aufbrachte, Geduld, Beharrlichkeit und gute Beziehungen zu Handwerkern wie Baustoffversorgung hatte, dem konnte es gelingen – auf dem Lande leichter als in der Stadt. Hausbesitzern war es sogar erlaubt, auf Eigenbedarf zu klagen. Allerdings durfte ein Mieter nur dann exmittiert werden, wenn ihm Ersatzwohnraum angeboten werden konnte.

Angst vor Protesten lähmte Reformgedanken

Der Mietenstopp aber wurde strikt durchgehalten und bildete einen wesentlichen Faktor für Lohn- und Einkommensentwicklung – so wie das schon die Nationalsozialisten im Auge gehabt hatten: Löhne niedrig halten, und damit das nicht nach Lohnstopp aussah, auch Mieten kleinhalten. Als dann die Löhne doch moderat stiegen, war dem Vermieter, gleich ob staatlich, privat oder genossenschaftlich, dennoch keine Erhöhung seiner Einnahmen möglich. In der Folge sank die durchschnittliche Mietbelastung der Haushalte von sechs bis sieben Prozent um 1950 auf nur noch vier Prozent im Jahr 1960. Auf diese Weise wurde der zur Miete lebende Bevölkerungsanteils bessergestellt und vollständig aus der Substanz der Wohnungswirtschaft finanziert.

Doch so offensichtlich der Niedergang auch war, eine Änderung kam nicht infrage. Die Angst vor Protesten der Bevölkerung lähmte jeden Reformgedanken. Ähnliche Panik erfasste die DDR-Führung, wenn die irrwitzige Übersubventionierung der Preise für Grundnahrungsmittel wie Brot oder auch Kinderkleidung zur Sprache kam.

„Ich lass mir doch nicht meine Politik kaputt machen“, soll Honecker gesagt haben, als man ihn in Parteikreisen auf die ökonomischen Belastungen durch das Wohnungsbauprogramm und die viel zu niedrigen Mieten im Bestand aufmerksam machte. Also: Ruhe im Karton, Probleme ignorieren, irgendwie auf Wunder hoffen – den Untergang des Imperialismus zum Beispiel. So wurde einfach weiter gemacht. Bis zum Untergang der DDR.

Geräuschlose Staatsfinanzierung

Der Preis, den die Altstädte zahlten, war hoch. Nur wenige Straßenzüge erhielten den Status eines „Rekonstruktionsgebietes“. In Berlin kam anlässlich der Feiern zum 750. Gründungsjubiläum der Stadt 1987 einzig die Husemannstraße in diesen Genuss.

Als die DDR am Ende war, erfuhr die Öffentlichkeit ganz beiläufig und ohne irgendwelche Aufregung zu erzeugen, dass das Wohnungsneubauprogramm aus den Sparguthaben der DDR-Bürger finanziert. Die hatten von dieser geräuschlosen Staatsfinanzierung nichts erfahren. Das Verfahren wirkte wie eine Zwangsanleihe und wäre später wahrscheinlich auf eine Enteignung hinausgelaufen. Platzen konnte die Sache nicht mehr: Die DDR nahm die Geheimnisse der Drei-Prozent-Sparbüchlein mit ins Grab.