Berlin: Die verkehrsberuhigte Friedrichstraße ist ein absoluter Reinfall

Das Projekt des Senats und des Bezirks offenbart viel über diese Stadt und ist ein Synonym für Halbherzigkeit, Provinzialität und gestalterische Mutlosigkeit.

Für eine Straße in der Mitte einer europäischen Metropole ist hier recht wenig los. Tote Hose, um genau zu sein. Das muss man sich auch leisten können als Stadt.
Für eine Straße in der Mitte einer europäischen Metropole ist hier recht wenig los. Tote Hose, um genau zu sein. Das muss man sich auch leisten können als Stadt.Sabine Gudath

Am vergangenen Wochenende war ich mal wieder auf der Friedrichstraße. Am Sonnabendmorgen um elf, eigentlich die beste Zeit, um zu flanieren und einzukaufen, war die Friedrichstraße kaum besucht. Viele Geschäfte hatten noch nicht geöffnet oder öffnen am Samstag nicht mehr wie zum Beispiel diese kleine Filiale des Feinkostgeschäfts Lindner, im Volksmund wohl für alle Zeiten geläufig als Butter Lindner. Eine Verkäuferin in einer anderen Filiale der Kette erzählte mir mal, dass man aus Pandemiegründen am Sonnabend nicht mehr öffne.

In Berlin wird zu viel experimentiert

Aber wer am Sonnabend über die Friedrichstraße geht, der weiß, dass es keine Pandemie mehr braucht, um dieser Meile das letzte bisschen Leben und Flair auszutreiben. Mit anderen Worten: Das Experiment „Verkehrsberuhigte Friedrichstraße“ ist mehr als gescheitert und das liegt an niemand anderem als am Senat und dem Bezirk Mitte, die mit diesem Projekt eine solche mitteklassige Verzagtheit an den Tag gelegt haben, dass man sich fragt, ob Berlin jemals seine tief verwurzelte Piefigkeit ablegen wird. Denn alles an der verkehrsberuhigten Friedrichstraße spricht dafür. Wenn man hier mal Mut zur Veränderung hätte beweisen wollen, dann hätte man die ohnehin schon schwächelnde Meile komplett für den Verkehr stillgelegt vom Halleschen Tor bis Unter den Linden, das hätte Größe gehabt.

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Aber in Berlin muss ja alles erst einmal versucht werden, alles ist Experiment mit möglichst vielen, oft wenig kompetenten Beteiligten. Und genau in diesem Stadium bleiben die Versuchsanordnungen dann stecken. Da muss man nur drei Kilometer vom Checkpoint Charlie zur Kreuzberger Bergmannstraße fahren, wo die Beruhigung in einem völlig irrsinnigen Wirrwarr endete: Poller, Steine, Parklets, Malereien und kryptische Beschilderungen wurden hier ausprobiert, viel Geld verbrannt und was dabei herausgekommen ist, ist eine Art Spielteppich für alle Verkehrsteilnehmer, ohne erkennbare Regeln, aber mit möglichst vielen obskuren Ideen für die Verkehrsführung. Ruhiger ist es nicht geworden und schöner schon gar nicht.

Abwanderung im großen Stil

Selbiges gilt auch für die Friedrichstraße. Erst Verkehr, dann nicht, dann wieder Verkehr. Für jeden etwas, für niemanden was Richtiges. Das ganze Projekt ist unausgegoren und so halbherzig, dass es wehtut und zwar allen Beteiligten. Flaniergefühl will sich nicht einstellen zwischen ein paar mickrigen Blumentöpfen und seltsamen Glaswerbekästen. Der Einzelhandel vermisst die Kundschaft und die Kundschaft vermisst dann irgendwann den Einzelhandel, der sich in vielen Teilen der Straße schon zurückgezogen hat: Quartier 206, Lindner, Luxusmarken wie Hermès schließen oder wandern ab.

Wenn man es genau nimmt, so braucht eigentlich niemand die Friedrichstraße, kaum jemand mag sie. Warum also nicht komplett stilllegen für den Verkehr – oder aber wieder im Ganzen freigeben? Beide Varianten hätten Größe. Aber das wäre wohl zu viel verlangt für Berlin, eine Metropole, wo man sich einfach zu gern bequem zwischen allen Möglichkeiten durchschlängelt, jedenfalls was den Verkehr anbelangt, und einfach zu oft versucht, es allen Beteiligten recht zu machen, und es sich mit niemandem verscherzen mag.