Berlin, Köpenicker Straße: Brachen, Zeltdorf, Luxuslofts: Kreuzberger Mischung

Berlin - Blau leuchtet die Mütze von Agustin. Ein Farbfleck an diesem grauen Winternachmittag. Agustin steht auf einem kleinen Holzpodest und jongliert einen Stick mit Puscheln an beiden Enden. Die Ärmel seines Sweatshirts hat er über die Hände gezogen. Es ist kalt. Auf einer Feuerstelle zwischen den Zelten kocht ein Topf mit Wasser. Das klingt nach freier Natur, doch wir befinden uns mitten in Berlin.

Eine Brache mitten in der Stadt, die sich ein paar Lebenskünstler geschnappt haben – in Paris oder London wäre ein solcher Ort undenkbar. Doch hier, am Ufer der Spree, auf dem Abschnitt der Köpenicker Straße zwischen Jannowitz- und Schillingbrücke, stehen Tipis und Jurten. Ein wilder Campingplatz für junge Leute aus aller Welt, Leute wie Agustin aus Argentinien. Vor drei Monaten kam er nach Berlin, seit einem Monat lebt er in einem der Zelte hier, auf einer Matratze, die frei war. Sie haben sie von irgendjemandem geschenkt bekommen. „Wir recyceln hier alles“, sagt Agustin. Er hat honigblondes Haar, blaue Augen, ein sanftes Lächeln. 28 ist er und kommt aus der kleinen Stadt Miramar, nicht weit von Buenos Aires. Er sei Künstler, sagt er, doch zur- zeit lebe er vom Flaschensammeln. Er mag Berlin. „Hier ist man auch jemand, wenn man kein Geld hat.“

Teepeeland haben die Bewohner ihr Zeltdorf genannt. So steht es auf dem aus Sperrholz gezimmerten Eingangsportal. Daneben liegt die Ruine der Eisfabrik, in der Armutsflüchtlinge aus Bulgarien hausen. Von hier sieht man einen Turm, gemauert aus Klinkersteinen. Er ist rund 200 Meter entfernt und gehört zur Seifenfabrik. Bis zum Wochenende ist hier der Club Kater Holzig, der Nachfolger der legendären Bar 25, zu Hause. Dann zieht er auf ein Grundstück gegenüber. In der Seifenfabrik entstehen Luxuswohnungen mit Fußbodenheizung, Kaminanschluss und Blick auf die Spree. Vier Zimmer im Dachgeschoss kosten mehr als eine Million Euro.

Die mit weißen Plastikplanen bedeckten Zelte und die Luxuswohnungen sind zwei extreme Pole. Vielleicht könnte man sagen, dass sie das Spannungsfeld markieren, in dem sich die Köpenicker Straße befindet. Dass das Teepeeland ihre Vergangenheit repräsentiert, dass es nur durch sie möglich wurde. Und dass die Neubauten für die Zukunft stehen. Verstehen kann man dieses extreme Nebeneinander nur, wenn man zurückblickt in die Geschichte dieser Straße.

„Hier war das Ende der Welt.“ Diesen Satz hört man oft, wenn man mit Menschen spricht, die die Straße schon zu der Zeit kannten, als die Mauer noch stand. Es gibt viele Straßen mitten in Berlin, die durch den Mauerbau 1961 ins Abseits gerieten. Doch die Köpenicker Straße traf es besonders hart. Die Mauer begrenzte sie nämlich von zwei Seiten. Sie schnitt sie am Bethaniendamm in zwei Teile, und nach Westen hin, dort, wo sie in die Schlesische Straße mündet, war nach einem kurzen Stück Richtung Südosten ebenfalls Schluss. Und die Oberbaumbrücke war auch dicht.

Neubauten und Ruinen

Max Hoch, der seit Anfang der Neunzigerjahre in der Nummer acht einen Weinladen hat, erzählt, dass seine Kinder in den Achtzigern auf der Köpenicker Straße das Radfahren gelernt haben. „Hier fuhr ja kaum ein Auto“, sagt er. Max Hoch, in Wollpullover und Jeans, steht in seinem Laden, an den Wänden lagern Weinkisten bis unter die Decke, dazwischen eine alte Standuhr und eine Spanienkarte, auf der Weinanbaugebiete verzeichnet sind. „Man konnte auf der Köpenicker Tango tanzen“, ruft ein Kollege von Hoch.

Heute kann man sich das schwer vorstellen. Draußen brettern Autos und Lkws vorbei. Die Köpenicker Straße ist nach dem Mauerfall schnell wieder zu einer Durchgangsstraße geworden. Aber sonst hat sich lange nicht viel getan. Anderswo veränderte sich die Stadt rasant, ganze Straßenzüge und Viertel wurden gentrifiziert oder verwandelten sich in Touristen- und Ausgehmeilen. Hier nicht. Max Hoch nennt die Köpenicker Straße träge.

Dabei hatte der Senat nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung hochfliegende Pläne für den „innerstädtischen Spreeraum“, wie es hieß. Kommunikations- und Medienunternehmen sollten sich hier ansiedeln, Bürogebäude, Lofts, Hotels. Mediaspree lautete das Stichwort. Doch entlang der Köpenicker Straße tat sich nicht viel. Noch im Jahr 2002 schrieb die Kreuzberger Chronik, das eigenwillige Stadtteilmagazin: „Jede Stadt kennt vornehme und weniger vornehme Adressen. (...) In der Köpenicker Straße zu wohnen, ist heute eher nichtssagend.“ Wenn man die zwei Kilometer entlanggeht, die die Straße misst, kann man auch zwölf Jahre später noch verstehen, warum das so ist.

Die Köpenicker Straße ist nicht schön. Sie ist eine raue Mischung aus Alt- und Neubauten, aus vermüllten Brachen, Ruinen und Gewerbehöfen. Es gibt das Köpi 137, ein autonomes Wohnprojekt, das 1990 besetzt und später legalisiert wurde. Das Graffito auf seiner Brandmauer – „Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten“ – brachte es zu Postkartenberühmtheit. Jetzt wird es von einer Bauruine verdeckt.

Das Gelände neben dem Köpi 137, auf dem sich eine Wagenburg befindet, ist vor Kurzem von einem Investor ersteigert worden. Das Umzugsunternehmen Zapf erkennt man von Weitem an seinen gelben Containern. Zapf möchte verkaufen oder dort selbst Wohnungen bauen und vermarkten. Das Behala-Gelände (Berliner Hafen und Lagerhausgesellschaft) mit dem denkmalgeschützten Viktoria-Speicher kann man als Zeuge einer Zeit betrachten, in der der Fluss Wasserstraße für die an seinem Ufer siedelnde Industrie war. Schon Ende 2011 ist es an einen Investor verkauft worden, ebenso wie die einstige Heeresbäckerei, die einer Tchibo-Tochter gehört. Auf all diesen Grundstücken sollen Wohnungen entstehen. Es tut sich etwas.

Das Heizkraftwerk von Vattenfall ist mit seinen hoch aufragenden Kaminen unübersehbar. Dass sich nebenan der Techno-Club Tresor befindet, muss man wissen. Auf der anderen Straßenseite steht ein Hostel, das in einem DDR-Plattenbau aufgemacht hat. Überhaupt gibt es in dem Mitte zugehörigen Teil der Straße, dem einstigen Osten, einige Plattenbauten. Und dazwischen stehen Altbauten. An der Ecke Brückenstraße teilen sich der Sage-Club und der freizügige Kit-Kat-Club Räume. All das, was diese Straße ausmacht, ist zu verschieden und auch zu hässlich, um sie zu einer heimeligen Nachbarschaft zu machen.

Vielleicht ist das der Grund dafür, dass sie bisher nicht den Versuch gemacht hat, eine Flaniermeile zu werden. Cafés und Geschäfte sind rar. Das Sage Restaurant und das immer noch hippe Spindler & Klatt sind keine Nachbarschaftsläden. Die Kunden kommen mit dem Auto.

Aber auch das ändert sich gerade. Schräg gegenüber von Max Hochs Weinladen hat ein kleiner Italiener aufgemacht. Es gibt Kaffee und einfache Speisen. Die Bedienung schreibt das Angebot mit Kreide auf eine Schiefertafel. Insalata di rucola con parmigiano, vitello tonnato. Am Tisch sitzt eine Gruppe junger Frauen. Sie unterhalten sich auf Englisch. Ihre Rollkoffer sind rot und stehen in einer Ecke. Es gibt einen Plattenladen. „Vor zehn Jahren hätte der noch keine Chance gehabt“, sagt Max Hoch.

Wenn man in den Hinterhof des Hauses tritt, in dem Hoch seinen Wein verkauft, steht man an der Spree. Das überrascht einen. Der Fluss ist nicht gegenwärtig auf der Köpenicker Straße. Man vergisst seine Nähe. Doch er fließt hier entlang, braun und beruhigend. Man beginnt die Bewohner des Hauses zu beneiden um ihren weiten Blick. Sie scheinen ihn zu schätzen, haben Bänke aufgestellt. Hier kann man sitzen und auf das Wasser blicken. Der Hinterhof hier ist eine Wiese, eine Schaukel gibt es und – Hühner. Sie gackern und scharren in einem kleinen Gehege. Wieder etwas, von dem man denkt, dass es andernorts kaum möglich wäre. Ein Hühnerhof an der Seine, mitten in Paris?

Es stellt sich heraus, dass die Hühner, es sind 13, Stefan Klinkenberg gehören. Er ist Architekt, sein Büro liegt in einem der Gebäude auf dem Hof. Es gehörte einst zu einer Mörtelfabrik. Er sagt, dass die Hühner zu seinem Lebensmodell gehörten. Arbeiten, leben, Tiere halten, alles an einem Ort, Großstadt hin oder her. Klinkenberg ist ein verschmitzt wirkender Mann Ende 50, sein weißes Haar steht zu Berge. Er kam 1976 aus Köln nach Berlin und studierte hier Architektur. Mitte der Achtzigerjahre hat er zusammen mit 14 anderen ein Haus gesucht. Man bot ihnen diesen Altbau an der Köpenicker Straße Nummer acht an. Das war kurz nachdem die Entscheidung gefallen war, hier doch nicht alles abzureißen, um Platz für einen Autobahnanschluss zu schaffen. Zehn aus der Gruppe seien damals abgesprungen, sagt Klinkenberg. „Hier ging man nicht hin.“ Aber ihm gefiel die Lage am Wasser. Er ärgert sich heute noch über Leute, die auf den Hof kommen und fragen: „Was ist denn das hier für ein Kanal?“

Amüsiermeile und Werkbank

Er hat das Haus saniert, seit 1988 wohnt er darin, er hat seine vier Kinder hier großgezogen. Derzeit arbeitet er an einem Buch über die Geschichte der Straße. Er erzählt von ihrer Zeit als Amüsiermeile mit Kinos, Tanzsälen und Bars und von ihren Jahren zwischen Kriegsende und Mauerbau, in denen sie die verlängerte Werkbank für den Osten war, wo man sich Ersatzteile für sein Auto beschaffte, die es drüben nicht gab.

Klinkenberg kennt die Köpenicker Straße lange und gut. Vor zehn Jahren wäre man Luxuswohnungen hier kaum losgeworden, sagt er. Aber nun werde es eng in Berlin, da bekämen auch Gegenden eine Chance, die bisher im Windschatten lagen. Ist die Köpenicker Straße eine Notlösung? „Wir werden jetzt ein Standort, der normal wird“, sagt Klinkenberg. „Der seiner Lage in der Mitte Berlins gerecht wird.“ Er sagt, er fühle sich bestätigt durch die Entwicklung. Jetzt, fast 30 Jahre später.

Ein Pionier wie Klinkenberg ist Christian Schöningh nicht. Aber er ist auch Architekt, und so wie Klinkenberg hat er sich der Köpenicker Straße mit Haut und Haaren verschrieben. Nur ist er viel später gekommen. Schöningh hat sein Architekturbüro in der Nummer 48, und bald wird er hier auch wohnen, im Spreefeld, seinem eigenen Projekt, einer genossenschaftlichen Baugemeinschaft, die an der Köpenicker Straße 42 bis 49 drei Neubauten errichtet. Direkt am Spreeufer. Dort, wo einst der Club Kiki Blofeld war. Im Juni war Richtfest.

Wenn man mit Christian Schöningh spricht, fällt öfter der Satz, die Stadt müsse ans Wasser zurückgeführt werden. Sie werden jedenfalls einen Uferweg bauen. Die Bezirke Mitte und Kreuzberg sind an einem durchgängigen Weg bisher gescheitert. Zwar gibt es die Idee, dort, wo Privatgrundstücke dem Uferweg entgegenstehen, Stege zu bauen. Doch nichts ist verwirklicht worden.

Schöningh gehört zu denen, die dafür sorgen, dass sich die Köpenicker Straße zu einem begehrenswerten Wohnort entwickelt. Um die Genossenschaftsanteile für das Spreefeld hat man sich gerissen. Auch Betreiber des Kater Holzig haben sich hier eingekauft. Die Warteliste ist lang. „Ich könnte noch drei solcher Projekte daneben bauen“, sagt Schöningh am Telefon. Er hat wenig Zeit. Doch er erzählt noch, dass er im Spreefeld in einer Alten-WG wohnen wird, als jüngster mit 52, in einer Art Ein-Zimmer-Wohnung mit Bad und Teeküche. „Und wenn ich mein Zimmer verlasse, stehe ich in einer 600 Quadratmeter großen Gemeinschaftswohnung.“ Eine Antwort auf den Wohnungsbedarf von Singles nennt er das.

Christian Schöningh kam aus Paderborn nach Berlin, hat in Charlottenburg und Kreuzberg gewohnt und ist nach dem Mauerfall nach Treptow und später nach Mitte gezogen. Das sind Wege, die viele gegangen sind. Und es gibt nicht wenige, die jetzt zurück wollen. Manche, die sich Anfang der Neunzigerjahre mit Handschlag von Max Hoch verabschiedet haben, weil sie nach Prenzlauer Berg zogen, kommen jetzt wieder zu ihm in den Weinladen. „Die fragen, ob ich nicht eine Wohnung in der Gegend für sie weiß“, sagt er.

Christian Schöningh hat 15 Jahre lang in der Steinstraße in Mitte gelebt. „Ich bin froh, dass ich da wegkomme“, sagt er. „Dort fühlen sich jetzt andere Leute wohl.“

Vielleicht ist die Köpenicker Straße eine Alternative für Menschen, die das Raue, das Unfertige an Berlin mögen. Das, was sie für das Wesen der Stadt halten.

Dass Menschen wie Agustin aus Argentinien neben ihnen in einem Zelt am Spreeufer leben werden, ist nicht wahrscheinlich. Rau ist nicht gleich rau.