Die „Bürgerbewegung“ von Schwarzer und Wagenknecht ist bewusst realitätsfern

Unsere Autorin findet, der „Aufstand für Frieden“ hat keine Hoffnung auf Erfolg, solange er so entschlossen ukrainische Perspektiven ignoriert.

Tausende Menschen nehmen an der Kundgebung „Aufstand für Frieden“ teil. Dort gab es keine Redebeiträge von Ukrainern und kaum ukrainische Flaggen.
Tausende Menschen nehmen an der Kundgebung „Aufstand für Frieden“ teil. Dort gab es keine Redebeiträge von Ukrainern und kaum ukrainische Flaggen.Markus Waechter/Berliner Zeitung

Seit Freitag, dem Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine, sind Zehntausende Menschen durch das Berliner Stadtzentrum marschiert – entweder aus Solidarität für einen ukrainischen Sieg oder aus Protest gegen Waffenlieferungen. Das sind Themen, die im vergangenen Jahr so gut wie jede Woche auf Kundgebungen in Berlin vertreten worden sind. Was die Kundgebungen zum Jahrestag aber besonders begleitet hat, ist ein schockierend hohes Maß an wütender, oft aggressiver Konfrontation, vor allem gegen Ukrainer, die im Laufe des letzten Jahres selten so öffentlich sichtbar war.

Am Freitag berichtete ich für die Berliner Zeitung über die verschiedenen Aktionen an diesem Tag. Abends auf dem Pariser Platz kamen immer mehr Ukrainer zum Brandenburger Tor, als die ukrainische Demonstration zum Jahrestag vorbeizog. Auf dem Platz befanden sich aber noch andere Menschen, die gerade an einer kleineren sogenannten Friedensdemonstration teilgenommen hatten – noch am Vorabend des von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer angeführten „Aufstands für den Frieden“.

Ein Gespräch fiel mir besonders auf. Eine Deutsche, die eine Fahne trug, die aus der deutschen und der russischen Flagge mit einer Friedenstaube in der Mitte bestand, stritt lautstark mit einer jungen Ukrainerin. „Ich bin viel älter als du, ich weiß viel mehr als du, was Waffen anrichten können“, sagte sie zu der Ukrainerin. „Ich weiß das eigentlich sehr gut“, kam schnell die Antwort. „Ich bin 23 Jahre alt und schon in diesem Alter habe ich Freunde, die durch russische Waffen getötet worden sind.“ Die Deutsche murmelte etwas, rollte mit den Augen und winkte ab.

Arroganz gegenüber menschlichem Leid

Es war eine Geste, die von einer Arroganz gegenüber menschlichem Leid zeugte, die mir den Magen umdrehte. Und eben jene Geste bleibt in meinen Augen symbolisch für die Hauptargumente der sogenannten Bürgerbewegung, von der Alice Schwarzer am Sonnabend sprach. Eine Bewegung, die ukrainische Stimmen und Perspektiven aktiv und bewusst ignoriert und ablehnt.

Sahra Wagenknecht (rechts) und Alice Schwarzer auf dem Weg zur Tribüne. Die Linken-Politikerin und die Publizistin plädieren für Friedensverhandlungen mit Russland statt Waffenlieferungen an die Ukraine.
Sahra Wagenknecht (rechts) und Alice Schwarzer auf dem Weg zur Tribüne. Die Linken-Politikerin und die Publizistin plädieren für Friedensverhandlungen mit Russland statt Waffenlieferungen an die Ukraine.Markus Waechter/Berliner Zeitung

Durch die bereits vollzogenen völkerrechtswidrigen Annektierungen und seine eigene Rhetorik zeigt Wladimir Putin immer wieder, dass für ihn nur eine Unterwerfung der Ukraine durch Brutalität und Landnahmen als Endziel in diesem Krieg akzeptabel ist. Laut einer vorige Woche veröffentlichten Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie glauben nur neun Prozent der ukrainischen Bevölkerung, dass einige Gebiete aufgegeben werden sollten, um Frieden zu erreichen; für 87 Prozent sind solche Zugeständnisse inakzeptabel.

Wagenknecht, Schwarzer und ihre Gleichgesinnten bestehen weiterhin auf „Friedensverhandlungen“ mit Russland – ohne ernsthaft auf diesen zentralen Punkt einzugehen. Daran hat ihre Aktion am Sonnabend nichts geändert. Unter den Demonstranten waren kaum ukrainische Fahnen zu sehen, das Gleiche galt nicht für die russischen Farben. Auch wenn nicht alle Beteiligten genau die gleiche Position vertreten wie die Frau auf dem Pariser Platz, ist diese Bewegung von einer Realitätsferne zerfressen, die ihr keinen Erfolg bringen kann.

Frieden, wie Wagenknecht und Schwarzer ihn sich vorstellen, sieht wie Butscha aus

Sahra Wagenknecht meinte zwar in ihrem Interview mit der Berliner Zeitung, Friedensverhandlungen müssten nicht unbedingt eine Unterwerfung der Ukraine bedeuten. Doch wir wissen aus zahlreichen Beispielen aus dem vergangenen Jahr, wie es für die Ukraine endet, wenn Russland militärisch die Oberhand hat. Das sieht dann so aus wie in Butscha, Isjum, Borodjanka, Mariupol und noch vielen weiteren ukrainischen Städten und Dörfern, die völlig zerstört oder zum Schauplatz grausamer Tötungen von Zivilisten und Massengräbern geworden sind.

So sieht der „Frieden“ aus, den Wagenknecht und Schwarzer mit ihrer Aktion befürwortet haben. Ob diese Tatsache sie und ihre Anhänger tatsächlich interessiert, bleibt fraglich.