„Die Leute brauchen uns immer noch“: Ein Jahr Flüchtlingshilfe am Hauptbahnhof

Vor einem Jahr sammelten sich spontan Freiwillige am Hauptbahnhof, um Geflüchtete aus der Ukraine zu unterstützen. Sie sind noch immer da. Wie geht es ihnen?

Seit einem Jahr helfen Freiwillige den ankommenden ukrainischen Geflüchteten am Hauptbahnhof. Alla Queißner ist seit den ersten Tagen nach Kriegsbeginn dabei.
Seit einem Jahr helfen Freiwillige den ankommenden ukrainischen Geflüchteten am Hauptbahnhof. Alla Queißner ist seit den ersten Tagen nach Kriegsbeginn dabei.Gerd Engelsmann

Sie gehören nun seit einem Jahr zum Hauptbahnhof genauso wie verspätete Züge und eilende Pendler: Die bunten Warnwesten der freiwilligen Helfer, die hier unterwegs sind und den aus der Ukraine angekommenen Geflüchteten Hilfe anbieten. Vorbei sind die Szenen aus dem Jahr 2022, in denen sich Familien hier auf der Suche nach einem Teller Suppe, einer SIM-Karte oder einfach nur einem Platz zum Sitzen drängten. Und doch sind sie noch da, die Helfer. Fast wie eine Erinnerung daran, wie sich das letzte Jahr des Krieges in der Ukraine auf Berlin ausgewirkt hat – und immer noch auswirkt.

An einem Abend in der Woche des ersten Jahrestags des russischen Überfalls auf die gesamte Ukraine sind vor allem Helfer am Hauptbahnhof im Dienst, die vom frühen Morgen an bei dieser Initiative dabei waren – wie etwa Alla Queißner. „Ich bin fast jeden Tag hier“, sagt sie. Sie ist Koordinatorin und trägt eine silberne Warnweste – mit einem Button der Bewegung „Omas gegen Rechts“ darauf.

Alla Queißner gehört zu den Berlinerinnen und Berlinern, die in den ersten Tagen nach dem 24. Februar 2022 zum Hauptbahnhof gingen und die Ankunft von Geflüchteten aus der Ukraine erwarteten. Mit der Zeit meldeten sich immer mehr Leute; schließlich entstand daraus die gemeinnützige Organisation Berlin Arrival Support (BAS). Neben dem Deutschen Roten Kreuz, den Maltesern, früher auch der Berliner Stadtmission, sowie anderen Berliner Organisationen, die sich etwa für die Rechte von Sinti und Roma und Drittstaatler unter den Geflüchteten einsetzen, sind die Freiwilligen von BAS immer noch dauerhaft präsent am Hauptbahnhof, trotz der Belastung, die das letzte Jahr mit sich gebracht hat.

Früher 10.000 Ankünfte am Tag – jetzt maximal 300

Am Höhepunkt der Fluchtbewegung Mitte März 2022 kamen am Hauptbahnhof täglich mehr als 10.000 Geflüchtete aus der Ukraine an, an einigen Tagen waren es bis zu 15.000. „Das war einfach pures Chaos“, sagt Alla Queißner. „Ich habe manchmal 15-stündige Schichten geleistet, so viel gab es zu tun.“ Ein Teil des Gangs zwischen der ersten Bahnhofsetage und dem Übergang zur U5 wurde innerhalb von wenigen Tagen zu einem improvisierten Flüchtlingslager, wo Essen verteilt wurde und Menschen auf Yoga-Matten übernachteten.

Inzwischen kommen am Tag maximal 300 Menschen aus der Ukraine am Hauptbahnhof an – in der Regel sei es deutlich weniger. Viele dieser Menschen sind auch nicht zum ersten Mal aus der Ukraine angereist – die BAS-Helfer sagen, sie kehren manchmal von dort auch zurück nach Berlin oder sind gekommen, um Verwandte oder Freunde zu besuchen. Aber es gibt auch noch die, die gerade aus der Ukraine geflüchtet sind und in Deutschland Zuflucht suchen wollen. Die Arbeit der Helfer geht also weiter. Vor allem das „Housing-Team“ von BAS stehe gerade vor der schwierigen Aufgabe, längerfristige Unterkünfte für Geflüchtete in Berlin zu finden.

An diesem Montag arbeitet neben Alla Queißner auch die 23-jährige Ukrainerin Romana Sytnyk. Im April 2022 reiste sie als Austauschstudentin von Kiew nach Berlin, kurz darauf machte sie ihre erste Schicht als Helferin. „Viele Menschen wollten bis zuletzt in der Ukraine bleiben, aber dann mussten sie fliehen“, erzählt sie. In letzter Zeit sei das vor allem Menschen aus Gebieten im Osten der Ukraine gewesen, die von russischer Besatzung befreit worden sind. „Die Leute brauchen uns immer noch, auch wenn es weniger zu tun gibt“, sagt Romana. Ihre freiwillige Arbeit gebe ihr das Gefühl, einen Beitrag zum Widerstand gegen die russische Aggression zu leisten, indem sie den Betroffenen hilft. Das will sie noch bis zum Kriegsende tun. Am Freitag wird Romana im Rahmen der Demonstration am Café Kyiv – das vorübergehend umbenannte Café Moskau – zum Jahrestag der Invasion sprechen.

Einige Helfer brauchten Therapie wegen Stress und Überbelastung

Kurz nach 18 Uhr begeben sich Alla, Romana und fünf weitere Freiwillige zum Gleis 13, wo ein Zug aus Warschau eintrifft. Es ist eine der Aufgaben, die trotz der ruhigen Lage nach wie vor Teil einer Schicht bleibt; die Helfer unterstützen die Menschen bei der Mitnahme von Haustieren oder Gepäck, sie helfen den älteren Fahrgästen, die im Rollstuhl sitzen oder Gehstöcke benutzen. Bei Bedarf zeigen sie ihnen den Weg zum Info-Punkt des DRK am Washingtonplatz, von wo aus Shuttle-Busse die neu angekommenen Geflüchteten zum Ukraine-Ankunftszentrum im ehemaligen Flughafen Tegel bringen. Von dort aus werden diejenigen, die in Deutschland bleiben wollen, aber in Berlin keine Bleibe haben, auf andere Bundesländer verteilt. Früher stand hier das große „Willkommenszelt“ des Berliner Senats; dieses wurde Anfang Oktober abgebaut.

Romana Sytnyk (links) und Alla Queißner mit zwei anderen Flüchtlingshelfern in ihrem kleinen Container vor dem Hauptbahnhof.
Romana Sytnyk (links) und Alla Queißner mit zwei anderen Flüchtlingshelfern in ihrem kleinen Container vor dem Hauptbahnhof.Gerd Engelsmann

Die Zusammenarbeit der Freiwilligen mit den Berliner Behörden hat nicht immer reibungslos funktioniert. Viele Helfer haben sich immer wieder beschwert, die Politik hätte das Ausmaß der Situation am Bahnhof nicht begriffen und nicht sensibel genug auf die Bedürfnisse der Geflüchteten reagiert. Noch heute gibt es Spannungsfelder. „Keiner macht sich Gedanken über uns“, sagt Alla Queißner: Einige Helfer hätten sogar eine Therapie machen müssen wegen des Stresses und der Intensität ihres Engagements. Es bleibt gerade auch unsicher, ob den Helfern von BAS die Nutzung ihres kleinen Containers vor dem Hauptbahnhof – das aktuell als ein wichtiger Aufbewahrungsort für Snacks, Corona-Tests und Spenden von Winterkleidung dient – nach dem 31. März weiterhin gestattet wird.

Ukrainer wie Romana Sytnyk haben auch die Möglichkeit einer Eskalation oder erneuten russischen Offensive im Krieg rund um den Jahrestag der Invasion ständig im Hinterkopf, wenn sie an die Zukunft denken. „Wir blicken mit ziemlich viel Wehmut nach vorn“, sagt sie. „Aber wir halten immer zusammen, wenn uns was fehlt. Und wir hoffen einfach, dass die Ukraine baldmöglichst diesen Krieg gewinnt.“

Sollte es in nächster Zeit zu erhöhten Ankunftszahlen kommen, sei Berlin darauf vorbereitet. Sowohl Sprecher des DRK als auch des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten sagen der Berliner Zeitung, bei Bedarf könne kurzfristig weiteres Personal eingesetzt werden. Auch Alla Queißner glaubt weiterhin an die Fähigkeiten der Freiwilligen, komme was wolle. „Diese Gruppe ist sehr flexibel“, sagt sie. Das heißt, die Helfer können auch auf die einzelnen Bedürfnisse der Geflüchteten, nicht nur aus der Ukraine, eingehen, die außerhalb der konkreten Aufträge der Behörden liegen. „Kommt eine weitere Fluchtbewegung, werden die Menschen darauf reagieren und mobilisieren. Da bin ich mir ganz sicher.“