Berlin-Neukölln Schillerkiez zwischen steigenden Mieten, Wärmestube und fragiler Aufbruchstimmung

Berlin - Eigentlich wollte er gleich wieder weg. Als Wolfgang Nawrocki vor 14 Jahren von Charlottenburg in die Neuköllner Okerstraße zog, wurde er mit vollen Windeln und benutzten Tampons begrüßt, die eine Nachbarin aus dem Fenster warf, erzählt er. Das soziale Umfeld habe ihn erst schockiert. Aber er sei froh gewesen, eine Wohnung zu haben, nach acht Wochen in der Teupe, der Erstaufnahmestelle für Wohnungslose in Neukölln. Seine Freundin hatte ihn zuvor rausgeworfen.

Mittlerweile fühlt sich Wolle, wie ihn seine Nachbarn im Schillerkiez nennen, als richtiger Neuköllner. Es gehe manchmal schon ein bisschen rau zu. „Aber die Menschen sind gut hier. Ich komme mit allen klar“, sagt er und nimmt einen Schluck aus seinem Kaffeebecher.

771 Euro Rente

Nawrocki – große Brille, kariertes Hemd, verschmitztes Lächeln – sitzt in der Tee- und Wärmestube der Diakonie, kaum 50 Schritte von seiner Haustür entfernt. Das Monatsende nähert sich, sein Geld wird knapp. Der ehemalige Maler lebt nach neun Jahren Hartz IV von 771 Euro Rente, 320 davon gehen für die Miete seiner Ein-Zimmer-Wohnung drauf. „Ich muss immer genau nachzählen, ob ich mir den Gang zu Aldi noch leisten kann“, sagt der 67-Jährige und tut so, als würde er Geld in seiner leeren Hosentasche suchen.

Vielen seiner Nachbarn im Schillerkiez geht es ähnlich. Am Monatsende werde es immer richtig voll in der Tee- und Wärmestube, sagt Sozialarbeiterin Christine Flohr. Da reichten die Sitzplätze nicht aus. Drei Mal in der Woche gibt es hier ein kostenloses warmes Essen, ein Mal Frühstück.

Seit Jahren ist Neukölln der Bezirk mit der ungünstigsten Sozialstruktur ganz Berlins. Der Kiez rund um die Schillerpromenade, der unmittelbar an die Ostseite des Tempelhofer Feldes angrenzt, gehört noch immer zu den Quartieren mit der größten Dichte an Transferleistungsempfängern. Im Schillerkiez leben 23.000 Menschen auf 100 Hektar, knapp 36 Prozent von ihnen beziehen Arbeitslosengeld II und andere Sozialleistungen, viele sind nichtdeutscher Herkunft.

„Das durchschnittliche Haushaltseinkommen liegt noch einmal 20 Prozent unter den anderen Gebieten Nordneuköllns“, sagt Gunnar Zerowsky, Leiter des Quartiersmanagements Schillerpromenade. Durch die Öffnung des Tempelhofer Feldes hat der Kiez einen Schub erlebt. Die Lebensqualität ist durch den Wegfall der lärmenden Einflugschneise und die Anbindung an Berlins größte innerstädtische Grünfläche gestiegen. Die Studenten und jungen Leute aus den hippen Nachbarquartieren östlich der Hermannstraße ziehen vor allem am Wochenende in Scharen durch die Straßen, auf dem Weg zum ehemaligen Flugfeld.

Elektro-Beats im Promenaden-Eck

Zwischen den typischen Eckkneipen, wo es das große Pils zum Teil noch für 1,40 Euro gibt, sieht man neuerdings einige szenige Lokale, und im Promenaden-Eck wird am Wochenende zu Elektro-Beats gefeiert, nicht immer zur Freude der Anwohner. Mit der Lebensqualität steigen allerdings auch die Mieten massiv, weshalb der Schillerkiez seit diesem Jahr wieder Milieuschutz genießt. „Die Angebotsmieten liegen zum Teil bei 10 Euro pro Quadratmeter, in Extremfällen sogar bei 20 Euro“, sagt Quartiersmanager Zerowsky. Wer eine Wohnung habe, versuche, sie unter allen Umständen zu halten. Alternativen gebe es für die Einkommensschwachen ohnehin kaum mehr.

Im Zweifel steige die Belegungsdichte, indem etwa die Kinder bei den Eltern blieben. Leidtragende dieser Entwicklung sind vor allem auch die Jüngsten. Laut Zerowsky liegt die Kinderarmutsquote im Kiez bei über 60 Prozent. An den Grundschulen hätten sogar mehr als 80 Prozent der Schüler eine Lehrmittelbefreiung.

Das Quartier wirkt nach außen vitaler als früher. Für Hilfesuchende gibt es diverse Anlaufstellen wie etwa die Tee- und Wärmestube, das Casa-Nostra-Büro, das unter anderem sozialpädagogische Familienhilfe und Schuldnerberatung anbietet, eine Mieterberatung, einen Mobilitätsdienst und Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände. Zudem sind in den vergangenen Jahren unter Federführung des Quartiersmanagements nachbarschaftliche Initiativen entstanden, wie zum Beispiel die Stadtteilmütter, ein Pilotprojekt, das wegen seines Erfolgs über die Grenzen Berlins hinaus bekannt wurde.

Lernen fürs Abitur

An der Ecke Weise-/Herrfurthstraße fällt die knallbunt besprühte Fassade der Schilleria auf, einer Freizeiteinrichtung für Mädchen und junge Frauen. Zwei von ihnen spielen Federball vor der Tür, drinnen gibt es einen Kickertisch, eine kleine Theaterbühne und einen Musikraum mit Aufnahmestudio. „Wir bieten nachmittags auch Nachhilfe an und kochen viel zusammen“, sagt Sevim, die gerade ein Praktikum in der Schilleria macht und früher selbst regelmäßig kam, um für ihre Abi-Prüfungen zu lernen.

Die Armut im Schillerkiez ist nicht immer sichtbar, und doch ist sie allgegenwärtig. Wolfgang Nawrocki sagt, es mache ihn traurig, dass er sich das Kino nicht mehr leisten könne. Filme seien früher seine Leidenschaft gewesen. Zum Glück gebe es manchmal die Ausflüge mit den Sozialarbeitern der Tee- und Wärmestube. In die Philharmonie, ins Museum und auch mal ins Kino. Für den 67-Jährigen sind das die schönsten Tage.