Wie der Krieg in der Ukraine die Jugendarbeit in Neukölln erschwert
Fatale Konkurrenz: Wenn humanitäre Katastrophen zu bewältigen sind, wird viel gespendet. Aber dann fehlt Geld für Vereine, die nun ums Überleben kämpfen.

Betont langsam fährt der Porsche durch den Kiez. Schwarz ist er, der Lack auffallend matt und edel. Die Männer drinnen schauen gelangweilt. Ein Stück den Berg runter ist die Hölle los. Berlin-Neukölln, Karl-Marx-Straße, lautes Hupen an einer Baustelle, aggressives Drängeln an den Ampeln. Alle haben es eilig.
Nicht so der elegante Porsche, der im Schritttempo durch den Rollberg-Kiez schleicht. Auf dem Fußweg stehen zwei Jungs, vielleicht 13 oder 14 Jahre alt. Als sie den Wagen sehen, wenden sie den Blick ab. Warum? „Nicht unsere Family“, sagt einer und nennt den Namen des Clans, zu dem die harten Jungs angeblich gehören.
Die Rollberg-Siedlung ist ein kleiner und kompakter Kiez in Neukölln, nicht im beschaulichen Süden mit den Einfamilienhäusern, sondern im harten Norden. Früher wurden solche Viertel als Arme-Leute-Gegenden bezeichnet, heute nennt man sie soziale Brennpunkte. Wer die Probleme beschönigen will, spricht von „Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf“.
Eine Discountkette hat das Lebensmotto der meisten Bewohner hier auf ein Werbeplakat geschrieben. Gegenüber vom Polizeiabschnitt 55 steht in roten Lettern: „Sparen“.
Um die Ecke geht ein Mann mit drei Tüten die Rollbergstraße hinauf. In den Tüten sind keine Einkäufe; der Mann bleibt an jedem Müllkübel stehen und durchsucht ihn ausgiebig.
Klassische Perspektiven der Jugend
Armut und Kriminalität – in Brennpunkt-Kiezen gehört beides zu den klassischen Perspektiven der Jugend. Doch das muss nicht sein. Denn hier gibt es den Verein Morus 14, ein Netzwerk der Schülerhilfe, das seit 2003 in diesem kleinen Kiez mit etwa 6000 Bewohnern dabei hilft, dem Nachwuchs bessere Chancen zu ermöglichen.
Der Verein wurde für seine Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet – und ist doch akut in seiner Existenz gefährdet. Das sagt Geschäftsführerin Susanne Weiß. Sie geht in ihr Büro, dort ist es ruhiger. Vorn, im großen Raum, herrscht Trubel. Leute kommen und gehen. Die 48-Jährige sagt: „Wenn wir nicht bald ein paar größere Spenden bekommen, haben wir nur noch die empfohlenen Rücklagen für etwa drei Monate, und dann ist hier Ruhe.“
Die gebürtige Neubrandenburgerin studierte in Berlin Islamwissenschaften und passt gut in eine Gegend, die von Angehörigen dieser Glaubensrichtung mit geprägt wird. Sie ist eine resolute Frau mit klaren Worten. Sie spricht auch offen über eine der Hauptursachen für die Spendenflaute: Es ist der Ukraine-Krieg.

„Gleich mit Beginn des Kriegs gingen bei uns alle Spenden erst mal auf null“, sagt sie. Das sei menschlich nachvollziehbar und spreche für die Empathie der Spendenwilligen. Aber es ändere nichts an dem Problem für ihren Verein. „Und so geht es nicht nur uns.“
Es ist ein Dilemma: Wenn ein Krieg ausbricht oder eine humanitäre Großlage zu bewältigen ist, wie aktuell die Erdbeben in der Türkei und Syrien, sorgt das Elend für Schlagzeilen. Fachleute sprechen von „Aufmerksamkeitsökonomie“: Wer in den Schlagzeilen ist, kann leichter Spenden generieren. Das Problem: Eine zusätzliche humanitäre Ausnahmesituation führt zu einer fatalen Konkurrenz, in diesem Fall zum Nachteil für Projekte wie dem in Neukölln.
Dabei ist der Verein in einem Bereich tätig, der immer wieder die Schlagzeilen bestimmt: Nord-Neukölln wird oft als eines der „bösen Gesichter“ von Berlin dargestellt. Die Armut wird beklagt, die Clankriminalität und rechtsfreie Räume. Die allseits bekannte Rütli-Schule ist keine zwei Kilometer entfernt, und die Schlagzeilen über die Krawalle von Jugendlichen in der Silvesternacht sind keine drei Monate her. „Das hier ist wirklich genau der richtige Ort, um möglichst zeitig den Schülern zu helfen“, sagt Susanne Weiß.
Fußball oder Studium – das war die Entscheidung
Wie elementar eine solche Hilfe für das gesamte weitere Leben eines Menschen sein kann, zeigt sich an dem jungen Mann, der nun bei ihr in der Tür steht: Hussein Youssef, 18 Jahre alt, lang, schlank und cool im Habitus, ruhig und schlau. Seine Eltern flohen aus dem Bürgerkriegsland Libanon. Sie stammen aus einfachen Verhältnissen, die Mutter ging nur sechs Jahre zur Schule. Als die Eltern in Berlin ankamen, konnten sie kein Deutsch, aber Hussein hat es geschafft: Von ganz unten in der sozialen Hierarchie führte ihn sein Weg auf das Ernst-Abbe-Gymnasium.
Und nicht nur das: Er legte auch noch ein Einser-Abi hin, und er spielte bei der U17-Jugendmannschaft von Hertha BSC – immerhin erste Liga. Er war auf dem Weg zum Profi. „Doch ich musste Prioritäten setzen“, sagt er. Nun konzentriert er sich auf sein Pädagogikstudium. Physik und Sport. „Fußball ist ein Fulltime-Job“, sagt er, „das Studium ebenfalls. Ich musste mich entscheiden.“
Eine Bilderbuchkarriere. Ein extremes Positivbeispiel in einem durchaus extremen Kiez: Ein Großteil der fast 6000 Bewohner lebt unter der Armutsgrenze. Geschätzte 90 Prozent stammen aus 30 Nationen und haben einen Wohnberechtigungsschein mit Dringlichkeit. Besonders hart trifft es Kinder und Jugendliche.

Auch die Familie von Hussein hat es nicht leicht. „Aber meine Mutter wollte unbedingt, dass aus uns was wird“, sagt Hussein. Er streicht sich über den Oberlippenbart und sagt: „Hat doch geklappt.“ Er lacht. „Aber allein hätte ich das nie gepackt. Ohne Morus 14 wäre ich nicht das, was ich heute bin.“
Er geht zu einem Schrank, auf dem ein paar Prospekte des Vereins liegen. Stolz zeigt er das Titelbild. „Das ist mein Bruder“, sagt er. „Der ist erst 14, aber schon größer als ich.“ Hussein erzählt, dass auch seiner Schwester hier geholfen wird.
Das Ganze nennt sich Mentoring. Das bedeutet: Jedes Kind wird möglichst in 1:1-Betreuung von einem Mentor oder einer Mentorin möglichst über Jahre durch den Schulalltag begleitet. „Das funktioniert sehr gut“, sagt Hussein. „Ich habe mein Abi eigentlich nicht in der Schule gemacht, sondern bei meinem Mentor. Der war aber nicht nur mein Mentor, der ist ein Freund geworden. Der ist Familie.“ Genau das ist das Ziel, erklärt Susanne Weiß: Vertrauen aufbauen, Verlässlichkeit, Kontinuität. Und: die Familie der Kinder erreichen, damit dann auch die jüngeren Geschwister mitmachen.

Hussein ist gekommen, weil er den Schlüssel für einen der Nachhilferäume benötigt. „Ich bin doch jetzt auch Mentor“, sagt er und geht zu Jawad, der es ebenfalls vom Rollberg-Kiez aufs Abbe-Gymnasium geschafft hat und den Hussein nun bis zum Abi begleiten will.
Draußen beginnen sie erst mal eine Fachsimpelei: Hussein fragt, wie die Schule war, und der 14-Jährige erzählt breit lächelnd, dass er sich heute besonders gut konzentrieren konnte. „Ich konnte ausschlafen, weil Unterricht ausgefallen ist.“ Dann geht es darum, ob seine Geschichtslehrerin gut ist. „Die ist sehr, sehr gut“, sagt Hussein. „Bleib dran, wenn sie merkt, dass du immer mitmachst, wird sie dich gut benoten.“ Dann erklärt er Jawad noch mal, dass er jeden Abend checken soll, welche Fächer er am nächsten Tag hat. „Und wenn du merkst, dass du etwas nicht verstanden hast, recherchierst du noch mal oder rufst mich an.“
„Das Gymnasium ist für viele emotional wie Ausland“
Auf dem Weg zum Nachhilferaum erklärt Susanne Weiß, wie wichtig diese Art Hilfe ist. „Die Mentoren haben ein ganz anderen Blick als die Eltern“, sagt sie. Denn oft können die Eltern nicht helfen. „Nicht etwa, weil sie nicht schlau genug sind, sondern weil sie das hiesige Schulsystem gar nicht kennen. Ihnen fehlt der Blick von innen.“ Entscheidend sei die persönliche Beziehung zu den Mentoren. Die Vorbildwirkung. Gerade für die Jugendlichen, die Abitur machen wollen, denn das Gymnasium ist außerhalb des Kiezes. „Die meisten Kinder bleiben nur im Kiez, deshalb ist das Gymnasium für viele emotional wie Ausland.“
Susanne Weiß erzählt, dass der Verein im vergangenen Jahr 290 Kinder betreut hat. Ein Rekord. Entscheidend sind dabei die 70 Mentoren, die ehrenamtlich arbeiten. „All das haben wir mit unserem recht schmalen Budget von 300.000 Euro gestemmt“, sagt sie.

Jahrelang bekamen sie Stiftungsgeld der Skala-Initiative der BMW-Erbin Susanne Klatten. Dann lief die Förderung planmäßig aus. „Doch obwohl wir schon lange vorher mit der Akquise begonnen hatten, haben wir nichts gefunden“, sagt sie. „Denn dann kam der Krieg.“
Hussein und Jawad gehen zu einem der fünf achteckigen Häuser im Zentrum des Viertels, Beton und Glas sind hier im klassischen Chic westdeutscher Sozialbauten der 70er-Jahre vereint. In dem Haus hat der Verein ein paar Räume von der Wohnungsgesellschaft bekommen. In einem Raum lernt eine Schülerin mit ihrer Mentorin. Hussein und Jawad gehen in den Nachbarraum, Hussein greift gleich zum Stift und füllt die weiße Tafel mit Tabellen und Formeln. „Das ist die erste binomische Formel. Kennst du?“ Jawad nickt. „Dann erklär mal.“ Es dauert nur Sekunden, und schon verwandeln sich die beiden Kumpel in Lehrer und Schüler, auch wenn ihr Tonfall locker bleibt.

Deutschland ist freigiebig. Das zeigt die „Bilanz des Helfens“, die der Deutsche Spendenrat jährlich herausgibt: Im vergangenen Jahr wurden 5,7 Milliarden Euro gespendet, das war fast so viel wie im Rekordjahr 2021. Trotz Inflation und massiv steigender Energiepreise. „Die Spenderinnen und Spender haben insbesondere Hilfen für die geflüchteten Menschen aus der Ukraine geleistet“, sagt der Geschäftsführer Martin Wulff. Mehr als 76 Prozent der Spenden gingen wieder in die humanitäre Nothilfe. In den Bereichen Entwicklungshilfe seien die Spenden hingegen rückläufig. Ebenso in den Bereichen Bildung und Kinder- und Jugendhilfe.
Aus der Branche ist zu hören, dass sich Stiftungen alle fünf bis zehn Jahre umorientieren. So passen sie sich dem jeweiligen Zeitgeist an und unterstützen seit einiger Zeit verstärkt den Klimaschutz oder Migrationsprojekte. Hinzu kommt, dass derzeit einfach weniger Geld da ist. Oft ist das Vermögen einer Stiftung in Aktien angelegt, und mit dem Krieg gingen die Kurse nach unten. Beliebt sind auch Pilotprojekte; wenn man sie unterstützt, kann man als Vorreiter glänzen. Sie laufen oft nur ein Jahr. Und so haben es Projekte schwer, die es wie die Neuköllner Schülerhilfe seit 20 Jahren gibt.
Als Hussein und Jawad mit ihrer Mathe-Einheit fertig sind, gehen sie zurück zu den Vereinsräumen. Unterwegs erzählen sie von den Silvesterkrawallen. „Ich war nicht dabei“, sagt Hussein. „Ich saß zu Hause auf dem Sofa und habe Tee getrunken.“ Er ärgert sich, dass nun wieder alle Neuköllner Jungs schief angeschaut werden. „Nur wegen ein paar Idioten. Dabei sind wir doch ganz normale Jungs“, sagt er. „Und wir beweisen doch, dass es geht: meine Geschwister, meine Freunde. Wir machen den Unterschied, wir machen eine gute Ausbildung, ersetzen die Fachkräfte. Das werden auch unsere Kinder machen.“
Hussein und Jawad haben einen Ball dabei und gehen in den Innenhof: weite Wiese, ein Spielplatz. Mitten auf dem Platz ein Fußballtor. Hussein erzählt noch, dass er nicht mehr bei Hertha, sondern im Berliner AK ist, einem Fußballklub, dessen erste Mannschaft in der Regionalliga spielt. Und dann sind beide in ihrem Element. Sie spielen im gleichen Verein: Jawad ist Stürmer, Hussein ist Torwart. „Ich helfe auch im Trainerteam mit“, sagt er und schießt den orangefarbenen Ball ins Tor. Dann gibt er Jawad ein paar Tipps, wie er den Ball eine gute Rechtskurve fliegen lassen kann. Er ist ein guter Erklärer. Und schon nach dem zweiten Schuss zieht Jawads Ball eine perfekte Kurve.

Hussein erzählt, dass er hier in Neukölln als Lehrer arbeiten will. „Das ist mein Kiez, hier kenne ich mich aus. Freunde, Familie, meine Moschee. Neukölln ist der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens“, sagt er. „Ich werde diesen Ort nie verlassen.“
Dann nimmt er den Ball mit dem rechten Fuß an, lässt ihn zehnmal von Fuß zu Fuß springen. Schießt ihn in die Höhe und als er fast wieder den Boden erreicht, fängt er ihn so auf, dass er zwischen seinen Füßen klemmt. Ein echter Könner. Aber Können ist Arbeit. Und die beiden hier arbeiten sehr ernsthaft.
Susanne Weiß schaut den Jungs zu und sagt: „Die Politik redet doch so gern über Neukölln, über Integration, über Problemkieze. Warum finanziert uns da niemand eine Stelle?“ Sie schüttelt den Kopf. „Wir überleben derzeit nur durch Hilfeaufrufe. Aber so kann kein Verein seriös finanziert werden.“ Sie lacht trocken und geht wieder in ihr Büro. Sie will mit ein paar Stiftungen telefonieren.