CDU und Grüne feiern, SPD bestürzt: Hat dieser Wahlabend zwei Sieger?
Kai Wegner von der CDU findet erst keine Worte, dann vielleicht keinen Partner zum Regieren. Grüne und SPD liegen gleichauf und Welten auseinander. Unterwegs auf drei Wahlpartys.

Es ist ein Abend, an dem einem Mann am Anfang fast die Worte zu fehlen scheinen. Am Anfang. Fast. Nachdem er sich den Weg durch die wild klatschende Menge gebahnt und schließlich auf der Bühne im Festsaal des Abgeordnetenhauses angelangt ist, braucht Kai Wegner ein Sekündchen, dann sagt er zwei Worte: „Überwältigend! Wahnsinn!“ Und dann ein drittes: „Phänomenal.“ Als der Applaus verebbt ist, stellt Wegner fest: „Berlin hat den Wechsel gewählt.“
Die Berliner CDU feiert sich selbst an diesem Abend. Sie feiert sich dafür, nach zwei desaströsen Ergebnissen einen gewaltigen Sprung nach vorn gemacht zu haben. Zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahrzehnten ist sie wieder stärkste Partei in Berlin. Und das mit gewaltigem Vorsprung.
Wie schon im gesamten Wahlkampf wirkt der Mann an der Spitze gelöst, beglückt, ja enthusiasmiert. Es ist eine sichtbar große Genugtuung für Kai Wegner, der sich so lange hat anhören müssen, dass er zwar möglicherweise die Wahl gewinnen würde, er mangels Partner es aber dann doch nicht zum Regierungschef bringen werde. Und dann dieses Ergebnis: ein klarer Sieg, noch einmal deutlich klarer, als es in den vergangenen Tagen den Anschein hatte.
Den Ton gibt CDU-Generalsekretär Stefan Evers vor, als er sagt: „Wir haben den klaren Auftrag erhalten, das Rote Rathaus neu zu führen.“ Wegner nimmt das gerne auf und sagt: „Unser Auftrag ist es jetzt, eine stabile Regierung zu bilden. Wir wollen eine erfolgreiche Berlin-Koalition anführen.“ Das Wichtigste aber sei: „Rot-Grün-Rot wollte so richtig keiner mehr, Rot-Grün-Rot ist abgewählt.“
Hartes Stück Arbeit
Wegner spricht von einem „riesigen Vertrauensvorschuss“, den die CDU durch dieses Wahlergebnis bekommen habe, „diesen Vertrauensvorschuss wollen wir jetzt zu einem Vertrauensbeweis machen“. Nur wie? „Wir müssen jetzt hart daran arbeiten, dass Berlin jeden Tag ein Stückchen besser wird, besser funktioniert.“
Doch natürlich weiß man in der Berliner CDU an diesem Abend ganz genau, dass noch nichts entschieden ist. Noch immer hat die alte Koalition eine Mehrheit. Wird es möglich sein, eine Koalition gegen den klaren Wahlsieger zu bauen?
Die CDU will vieles dafür tun, dass es nicht dazu kommt. Generalsekretär Stefan Evers kündigt die unmittelbaren Schritte am Montag an: Erst soll das Präsidium tagen, „danach gehen Einladungen zu Gesprächen an alle demokratischen Parteien heraus“. Es ist nicht der Abend für inhaltliche Feinheiten. Kai Wegner sagt nur so viel: „Wir wollen Schluss machen mit dem Gegeneinander: Fahrrad gegen Auto, Innenstadt gegen Außenbezirke. Alt gegen Jung.“ Mit wem das möglich wäre? Darüber will niemand spekulieren.
Die, mit denen es möglich wäre, liefern sich an diesem Abend einen anderen Kampf. Den um Platz zwei. Oder um Platz eins im eigenen Rot-Grün-Rot-Lager. Wer dieses gewinnt, kann auch Wahlsieger werden. An Wegner und seiner CDU vorbei.
Grüne und SPD liegen in den ersten Prognosen gleich auf, beide weit hinter der CDU. Doch die einen wirkten vor Freude darüber außer Rand und Band. Die anderen wirkten bestürzt.
Die Grünen feiern in der Heinrich-Böll-Stiftung in Mitte. Und sie feiern tatsächlich. Wer um kurz nach 18 Uhr im Saal in der ersten Etage nur den Jubel hört, kann den Eindruck gewinnen, auf der Party der Wahlsieger zu sein. Die Zahlen der ARD gehen in Applaus und Jauchzen unter. Ricarda Lang, die Bundesvorsitzende, fällt Parteifreunden um den Hals. Renate Künast, Monika Herrmann, Silke Gebel feiern neben ihr. Gelöst, strahlend sehen sie aus. Als habe nicht gerade die Union ein Spitzenergebnis geholt, sondern sie.
Die SPD hat sich im Festsaal Kreuzberg versammelt. Um 18.09 Uhr klettert die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey auf die Bühne, und man hat den Eindruck, dass sie es schnell hinter sich bringen will. Neben ihr steht der Co-Landesvorsitzende Raed Saleh, hinter ihr der SPD-Landesvorstand. Das ist jetzt erst mal räumlich zu verstehen.
Giffeys Miene ist ernst, fast starr. Ihre ersten Worte lassen ahnen, dass sie gerade ein Déjà-vu-Erlebnis hat. „Wir hatten schon mal einen so schwierigen Abend“, sagt sie und meint den Wahlabend im September 2021. Damals sah es aus, als hätten die Grünen gewonnen. Über den Abend hinweg korrigierten die Hochrechnungen die erste Prognose, die SPD gewann doch.
Giffey schwört nun noch einmal aufs Durchhalten ein. „Habt Geduld“, sagt sie den SPD-Anhängern, die diesen Satz mit großem Beifall quittieren. Doch die bittere Wahrheit hat Giffey zuvor schon gesagt: „Es ist nicht Platz eins geworden“, räumte sie ein. „Und wir wissen noch nicht, ob es Platz zwei wird.“
Aber auch das gibt sie der CDU jetzt schon mit: „Jeder, der regieren will, muss es schaffen, eine stabile Mehrheit zu organisieren.“ Sie wird diesen Satz im Laufe des Abends immer wieder sagen, auch als Antwort auf die Frage, ob sie selbst sich zurückziehen wird, wenn es mit dem zweiten Platz für die SPD nichts werden sollte.
Im Festsaal Kreuzberg wollen die SPD-Anhänger ebenfalls nicht so schnell aufgeben. Die Leute klatschen und rufen. Die meisten scheinen sich darauf einzustellen, dass es einfach doch noch klappt mit Platz zwei – und das gleiche Bündnis aus SPD, Grünen und Linke weiterregiert wie bisher schon.
Das sagt auch Alfonso Pantisano, der Vorsitzende der SPDqueer in Berlin: „Der Abend ist noch lang. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir es schaffen.“ Etwas weiter am Rand stehen Tim Renner, der frühere Berliner Kulturstaatssekretär, den Giffey gerne als Bundestagskandidaten für Neukölln gesehen hätte. Und der Schauspieler Clemens Schick. „Es wäre für Berlin besser, wenn Franziska Giffey Regierende Bürgermeisterin bliebe“, sagt er der Berliner Zeitung. Besonders zuversichtlich wirkt er nicht.
Innensenatorin Iris Spranger verströmt dafür Optimismus für zwei. Sie schlängelt sich an den Stehtisch vor der Bühne, als Raed Saleh dort oben gerade gegen die CDU austeilt, die ihren Anstand im Wahlkampf an der Garderobe abgegeben habe. Dem Beifall und den Bravo-Rufen nach zu urteilen, sind die SPD-Mitglieder eher nicht für eine große Koalition in der Hauptstadt.
Innensenatorin zuversichtlich
Auch Saleh sagt, was Giffey zuvor erklärt hatte: Man habe leider nur ein Jahr Zeit gehabt, um die bezahlbare Stadt zu realisieren – und dazu noch drei große Krisen handhaben müssen. Leider hätten die Richter des Landesverfassungsgerichtes entschieden, die Wahl, die „gewisse Mängel“ aufgewiesen habe, zu wiederholen, bedauerte er.
An diese Stelle fällt auf, dass Andreas Geisel schon länger nicht mehr in der Öffentlichkeit zu sehen ist. Der frühere Innensenator war politisch für die Katastrophenwahl von 2021 verantwortlich. Er ist mittlerweile Senator für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen, was in den vergangenen 16 Monaten auch eher ein trauriges Kapitel in Berlin war.
Iris Spranger hat den Kollegen auch nicht gesehen. Auf die Frage, ob man ihn im Wahlkampf versteckt habe, lacht sie herzlich, sagt aber nichts. Auch nicht, ob sie glaubt, dass er Senator bleibt. Um sich selbst mache sie sich keine Sorgen. Sie will Innensenatorin bleiben. „Das klappt schon“, sagt sie. „Warten Sie mal ab.“ Auf der Bühne ist nach 18 Minuten Schluss. In der zweiten Hochrechnung haben die Grünen einen leichten Vorsprung.
Die ohnehin gute Stimmung in der Heinrich-Böll-Stiftung steigt da noch weiter. Eine prominente Grüne sagt, vor dem Abend hätte sie keine Wette abgeben. Alles sei drin gewesen. Und nun liegen sie in den ersten Hochrechnungen vor der SPD auf Platz zwei, sind stärkste Kraft im rot-grün-roten Lager. Und das könnte sogar weiter regieren. Eine Regierende Bürgermeisterin Jarasch ist denkbar. Dann hätten die Grünen tatsächlich gewonnen, auch wenn sie so weit hinter der CDU liegen wie die SPD.
Es gibt ein paar Buhrufe für das Ergebnis der CDU, etwas Gelächter, als Sebastian Czaja von der FDP auf den Bildschirmen zu sehen ist. Die Landesvorsitzende Silke Mertens ruft ihrer Partei zu: „Feiert, feiert, bis die Schwarte kracht!“ Ricarda Lang, die Bundesvorsitzende, dankt für das Verteilen von Flyern bei Mistwetter und sagt: „Das ist ein starkes Ergebnis.“ Das Rennen um Platz zwei sei offen, sagt Lang, es ist kurz vor sieben. Über Schwarz-Grün oder die Union redet hier bei den Grünen kein Mensch. Bettina Jarasch wird eingeblendet, aus einem Wahlstudio im Abgeordnetenhaus erklärt sie, erst mit den bisherigen Koalitionspartnern in Gespräche gehen zu wollen. Wieder Jubel bei ihrer Partei.
Monika Herrmann, Ur-Grüne aus Friedrichshain-Kreuzberg, erzählt vom Wahlkampf mit Wärmesohlen in den Schuhen. Sie kommt auf den endlosen Streit über die Verkehrswende zu sprechen, den Gegenwind für grüne Ideen zur Verkehrspolitik. Und nun sagt Herrmann: „Am Ende wird die Verkehrswende doch gewählt.“ Sie hofft wie viele hier darauf, dass die Koalition weiterregieren wird. Nur eben nicht mehr als Rot-Grün-Rot, sondern als Grün-Rot-Rot. Wenn man das abkürzt, kommt übrigens ein Berlin-typisches Geräusch heraus: GRR.