Berlin: Schick und sauber? Wer das denkt, muss auf Drogen sein

Der Autor Anselm Neft vermisst das alte, dreckige und raue Berlin. Offenbar hat er nicht richtig hingesehen. Eine Antwort auf „Champagner statt Sterni in der S-Bahn: Das ist nicht mehr mein Berlin!“.

Eine geleckte Metropole, wie der Autor Anselm Neft sie gesehen haben will, ist Berlin sicher nicht. 
Eine geleckte Metropole, wie der Autor Anselm Neft sie gesehen haben will, ist Berlin sicher nicht. Gerd Engelsmann

Als ich neulich eine Freundin zu Besuch hatte, fragte ich sie, warum sie nicht in Berlin leben würde. „Weil ich auch mal ein paar gepflegte Menschen in der Bahn möchte“, war ihre entnervte Antwort. Leute reagieren mittlerweile oft genervt auf diese Frage von Menschen, die hier leben.

Die mit weit aufgerissenen Augen komplettes Unverständnis signalisieren, dass jemand nicht in Berlin leben will. Wie kann das nur sein, wo Berlin doch hippste Stadt der Welt ist? 

Berlin: eine schicke Metropole? Das ist doch ein Witz!

Früher dachte ich auch so. Berlin fand ich aufregend, den Schmutz, die abgefuckten Leute in der Bahn, die Dealer in den Parks, die Touristen auf den E-Bikes, die Verwerfungen zwischen den Kulturkreisen, all das tat ich leicht ab als „authentisches Großstadtding“.  Mittlerweile sehe ich die Stadt mit anderen Augen. Ich kann meine Freundin verstehen.

Lies doch mal diesen Text, sagte ich. Und schickte ihr den Link zu Anselm Nefts „Champagner statt Sterni in der S-Bahn: Das ist nicht mehr mein Berlin!“ auf ihr Handy. Der Autor, den ich sehr schätze, zeichnet darin ein Bild einer Stadt, die nicht mehr so ist wie noch vor ein paar Jahren. Er sieht in Berlin eine schicke Metropole, durchgentrifiziert zum Guten, sauber und freundlich, urban und mit „geleckten Straßen“.

Das, was der geraucht hat, will ich auch, lachte meine Freundin, die wie der Autor übrigens auch Hamburgerin ist, by choice, versteht sich. Und auch ich musste lachen bei dem Text. Es gibt einen Roman von Stanisław Lem, in dem der Held eine Pille genommen hat und alles ist toll in der Stadt, in der er lebt. Als die Wirkung der Droge nachlässt, sieht er, in welchem Drecksloch er wirklich lebt. So weit würde ich nicht gehen, bei der Beschreibung Berlins, aber diese Stadt ist weder sauber noch fern aller Probleme.

Nein, sie ist dreckig und abgerockt, die Verwaltung ist bräsig und die Leute auf den Straßen sind oft unfreundlich bis aggressiv. Und dass Anselm Neft am Kotti von hilfsbereiten Mädchen den Weg erklärt bekam und dabei auch noch gesietzt wurde, besagt natürlich gar nichts. Der Dealer, an dem ich jeden Morgen in der Hasenheide vorbeifahre, grüßt auch freundlich. Ich grüße auch freundlich zurück. 

Seltsames Inseldasein

Dass Neft auf der Suche nach dem roughen Berlin nur schicke Araber und gastfreundliche Türken getroffen hat, ist jetzt auch kein Indikator dafür, dass alles richtig läuft in dieser Stadt, sondern, ehrlich gesagt, nur ignorant. Was hat der Mann erwartet? Silvesterkrawalle Mitte Januar? Menschen in Lumpen und mit Leprageschwüren?

Zu glauben, man habe diese Stadt verstanden, nur weil man einen Nachmittag lang in Entdeckerlaune durch Berlin gestreift ist, ist natürlich falsch. Berlin ist in den vergangenen 20 Jahren nicht lebenswerter geworden, sondern anstrengender. Dreckiger. Rauer. Aber auch weltoffener und Ziel vieler Menschen, die sich hier Abenteuer und Unterhaltung erhoffen. Das alles ist, vielleicht, total in Ordnung. Vielleicht sind das die „Wachstumsschmerzen“ einer Stadt, die 40 Jahre lang ein einzigartiges und seltsames Inseldasein führte. 

Haben Sie eine Meinung zur Sauberkeit von Berlin? Dann schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de