Höchststrafe für Kriegsverbrechen: „Ich werde keinen von euch am Leben lassen“

Das Kammergericht Berlin spricht einen staatenlosen Palästinenser schuldig. Er hatte in einem syrischen Flüchtlingslager eine Granate auf hungernde Menschen abgefeuert.

Der Angeklagte versteckt sich hinter seinen Verteidigern. Die Anwälte hatten einen Freispruch für ihren Mandanten verlangt.
Der Angeklagte versteckt sich hinter seinen Verteidigern. Die Anwälte hatten einen Freispruch für ihren Mandanten verlangt.Katrin Bischoff

Es ist die höchstmögliche Strafe nach dem deutschen Strafgesetzbuch, zu der Moafak D. an diesem Donnerstag in Berlin verurteilt wird – nach fast 40 Verhandlungstagen. Wegen besonders schwerer Kriegsverbrechen durch den Einsatz verbotener militärischer Mittel, vierfachen Mordes und zweifachen Mordversuchs spricht ihn der 2. Strafsenat des Kammergerichts schuldig. Der 55-jährige staatenlose Palästinenser muss eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßen. „Die Schuld wiegt besonders schwer“, sagt Delia Neumann, die Vorsitzende Richterin. Damit kann Moafak D. auch nach 15 Jahren nicht auf Bewährung aus der Haft entlassen werden.

Unbeweglich, das Gesicht zu den Richtern gewandt, nimmt der Mann mit dem grauen Haarkranz und dem Vollbart das Urteil entgegen. Jeder Platz im Zuschauerraum in dem größten Saal des Kammergerichts ist besetzt. Moafak D., Vater von vier Kindern, hat nach Ansicht des Senats im Frühjahr 2014 eine Panzerabwehrgranate in eine Menschenmenge geschossen, die im Flüchtlingslager Al-Yarmouk auf überlebenswichtige Lebensmittelpakete gewartet hatte. Zeugen hatten ihn dabei beobachtet, vor Gericht ihre Eindrücke geschildert.

Delia Neumann beschreibt in ihrer einstündigen Urteilsbegründung die Situation der Menschen in dem Lager am Rande der syrischen Hauptstadt Damaskus, in dem der Angeklagte 1967 geboren wurde. 2013 hätte das Assad-Regime die Stromversorgung gekappt und jeglichen Zugang verwehrt. Es habe sich eine humanitäre Katastrophe entwickelt, sagt die Richterin. Lebensmittellieferungen durch eine UN-Hilfsorganisation seien immer schwieriger geworden. Seit Anfang 2014 hätten die Helfer wieder Zugang zum Lager gehabt, jedoch nur sporadisch.

Die Menschen, die zu den Lebensmittelausgabepunkten gingen, begaben sich in Lebensgefahr. Häufig wurden sie von regierungstreuen Milizen, die das Lager bewachten, schikaniert und misshandelt. Moafak D. gehörte zu diesen Milizen. Wenige Tage vor der Tat war Emat, der 25-jährige Neffe des Angeklagten, von Anhängern der regierungsfeindlichen „Freien Syrischen Armee“ getötet worden.

Angeklagter wollte Rache für den Tod des Neffen

Am 23. März 2014 waren wieder mehr als 100 unbewaffnete Bewohner des Lagers zu einer Ausgabestelle gegangen, um eines der Lebensmittelpakete zu bekommen. Die meisten von ihnen waren Frauen und Kinder. Am späten Nachmittag sei der Angeklagte mit weiteren regimetreuen Milizionären dort erschienen. Er sei wütend über den Tod seines Neffen gewesen, sagt die Richterin. An wehrlosen Bewohnern habe Moafak D. Rache nehmen wollen.

„Ich werde keinen von euch am Leben lassen“ – mit diesen von Zeugen gehörten und vor Gericht wiedergegebenen Worten ließ sich der Angeklagte einen Raketenwerfer geben. Dann schrie er: „Für dich, Emat“ und feuerte eine Granate auf die Menge ab. Mindestens vier Menschen seien getötet worden, sagt Neumann. Höchstwahrscheinlich habe es viel mehr Opfer gegeben.

Delia Neumann ist Vorsitzende Richterin des 2. Strafsenats am Kammergericht.
Delia Neumann ist Vorsitzende Richterin des 2. Strafsenats am Kammergericht.Katrin Bischoff

Mindesten zwei weitere Menschen wurden lebensgefährlich verletzt. Die Männer sind in dem Verfahren Nebenkläger, leiden noch heute unter den Folgen der Tat, haben Albträume. Bei einem von ihnen stecken noch immer Granatsplitter in der Lunge.

Es sei das Besondere an dem Verfahren, dass es weder Tatortbilder noch Skizzen noch die Namen der Toten oder eine Tatwaffe gebe, sagt die Vorsitzende Richterin. Der Senat ist überzeugt, dass Moafak D. einen Raketenwerfer RPG 7 verwendet hat, ein 6,5 Kilogramm schweres Gerät, mit dem Granaten abgeschossen werden. Menschliche Körper, die sich in zwei bis drei Metern vom Einschlag des Geschosses befinden, werden zerrissen. Der Splitterradius liegt laut Gericht bei bis zu 150 Metern.

Moafak D. war 2018 von Syrien nach Deutschland gekommen. Zeugen hatten ihn als Abu-Akr erkannt, den Chef einer Miliz, der die Granate auf Zivilisten abgefeuert hatte. Er wurde im August 2021 verhaftet. Seitdem sitzt er in Untersuchungshaft. Dass er hier verurteilt werden konnte, ergibt sich laut Neumann aus dem Weltrechtsprinzip. Damit kann die deutsche Justiz schlimmste Verbrechen wie Völkermord oder Kriegsverbrechen, auch wenn sie im Ausland begangen wurden, vor Gericht bringen.

Lange hatte der Angeklagte zu den Vorwürfen geschwiegen. Erst am 23. Verhandlungstag erklärte er, 2012 aus Al-Yarmouk weggegangen zu sein. Zum Tatzeitpunkt sei er nicht in dem Lager gewesen. Diese Aussage, so Neumann, sehe die Kammer aber durch die Aussagen der Zeugen widerlegt. Selbst bei der Recherche durch Experten im Internet zu diesem Geschehen sei immer nur ein Name als Täter aufgetaucht: Moafak D.

Lebensmittelpaket war „Karton des Todes“

Neumann sagt, der Angeklagte habe mit militärischen Mitteln Zivilisten angegriffen. Er tötete die Menschen zudem aus niedrigen Beweggründen und mit gemeingefährlichen Mitteln. Heimtücke als Mordmerkmal sieht der Senat hingegen nicht. Die Menschen in dem Lager hätten jederzeit mit Angriffen gerechnet. Die Lebensmittelkisten seien als „Karton des Todes“ bekannt gewesen. „Um dem Hungertod zu entgehen, begaben sich die Bewohner bewusst in Lebensgefahr“, sagt die Richterin. Damit begründet sie auch die besondere Schwere der Schuld.

Nach dem Urteil wird es laut im Saal. Moafak D. ruft in den Zuschauerraum, dass er unschuldig sei und es eine höhere Gerechtigkeit gebe. Salim Firas Al Damony sitzt unter den Zuschauern. Der 48-Jährige sagt wenig später, er sei froh über das „sehr gute Urteil“. Dann zeigt er mit Tränen in den Augen ein Foto von seinem jüngeren Bruder, der nach seinen Worten bereits 2012 in Al-Yarmouk getötet wurde. Vielleicht, so hofft Al Damony, werde auch seinem Bruder Gerechtigkeit widerfahren.