Friedrichshain-Kreuzberg: Ein ganzer Bezirk soll verkehrsberuhigt werden

Für die Anwohner weniger Lärm, für die Autofahrer Sperren. Ein Projekt beginnt, das in Berlin einzigartig ist. Wird ein Teil der Innenstadt nun zu „Bullerbü“?

Poller am Lausitzer Platz in Kreuzberg. Fußgänger und Radfahrer können passieren, Autos nicht: Die Sperre soll den Durchgangsverkehr aus dem Wohnviertel draußen halten.
Poller am Lausitzer Platz in Kreuzberg. Fußgänger und Radfahrer können passieren, Autos nicht: Die Sperre soll den Durchgangsverkehr aus dem Wohnviertel draußen halten.Sabine Gudath

Verkehrsberuhigung: Das hört sich nett und besinnlich an. Für die Anwohner bedeutet es in der Tat weniger Lärm und weniger Durchgangsverkehr, sichere Schulwege und mehr Platz für Fußgänger. Dagegen klagen Autofahrer über den Zwang, Umwege fahren zu müssen, über Tempolimits und den Verlust von Stellplätzen. In der verkehrspolitischen Debatte fällt abfällig das Wort „Bullerbü“. So gesehen haben sich die Verantwortlichen in Friedrichshain-Kreuzberg ein heißes Eisen und viel Arbeit aufgeladen. Am Mittwoch kündigten sie an, dass das gesamte Bezirksgebiet verkehrsberuhigt werden soll.

Wirklich das gesamte Gebiet? „Ja“, sagt Felix Weisbrich, Leiter des Straßen- und Grünflächenamts. Er macht eine ausladende Bewegung. „Überall“, bekräftigt er. Naja, fast überall. Ein paar grauweiße Flecken gibt es noch auf der Karte, die Weisbrich und seine Stadträtin Annika Gerold am Mittwoch zeigen. Aber nicht viele, die Halbinsel Stralau etwa. Meist leuchtet es violett und gelb. Das heißt: Hier soll es für Autos eng werden. Sperren sollen Durchgangsverkehr unterbinden, Parkverbote und Tempolimits weitere Einschränkungen bringen – von denen dann vor allem die Anlieger profitieren.

„Flächendeckende Verkehrsberuhigung“: So lautet das Stichwort für das jüngste Arbeitsprogramm, mit dem das grün regierte Friedrichshain-Kreuzberg dem selbst gesetzten offiziellen Ziel, in Berlin Vorreiter der Mobilitätswende zu sein, ein weiteres Stück näher kommen möchte. „Handlungsbedarf für Verkehrsberuhigung wird im gesamten Bezirk gesehen“, sagt Stadträtin Gerold. „Wir wollen keinen Flickenteppich, der dazu führt, dass sich Verkehr verlagert“, pflichtet Amtsleiter Weisbrich bei. Noch im Sommer sollen die ersten Gespräche mit Bürgerinitiativen vor Ort beginnen.

Ungewöhnlich – Verwaltung lädt sich freiwillig mehr Arbeit auf

In der Berliner Verwaltung ist das schon sehr ungewöhnlich: Weisbrich und seine Leute laden sich freiwillig mehr Arbeit auf, als es politischer Druck eigentlich verlangen würde. Sicher, in einigen Wohnvierteln setzen sich Bürgerinitiativen seit Langem dafür ein, Durchgangsverkehr künftig aus ihren Wohnvierteln herauszuhalten. Die Kiezblock-Bewegung ist im Bezirk besonders groß und besonders engagiert. So laufen für den Kreuzberger Bergmannkiez, das Gebiet rund um den Lausitzer Platz, für den Wrangel- und den Friedrichshainer Samariterkiez bereits Verfahren, mit denen der Bezirk diese Bürgerwünsche erfüllen will. „Doch es gibt auch in anderen Bereichen die objektive Notwendigkeit, sich um die Verkehrssicherheit zu kümmern“, sagt Annika Gerold.

So hätten Unfälle im Hausburgviertel gezeigt, dass dort Schulwege unsicher sind, sagt die Grünen-Politikerin. Das Berliner Mobilitätsgesetz gelte überall im Bezirk. Dann ist da noch das Votum der Wähler, die den Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg erneut eine Mehrheit beschert habe. „Das Wahlergebnis ist ein Auftrag für uns“, so Gerold.

Bereits verkehrsberuhigt: In der Kreuzberger Bergmannstraße müssen auch Radfahrer bremsen.
Bereits verkehrsberuhigt: In der Kreuzberger Bergmannstraße müssen auch Radfahrer bremsen.imago/A. Friedrichs

Wo wird das Arbeitsprogramm in Angriff genommen? Möglichst an vielen Stellen gleichzeitig, betont der Amtsleiter. Er stellt sich vor, dass 50 Gehwegvorstreckungen gleichzeitig angelegt werden. Dort wird der Bürgersteig bis zur Fahrbahn verlängert, wodurch Kraftfahrer Fußgänger besser sehen können.

Einbahnstraßen und Fahrbahnschwellen

Der Werkzeugkasten des Bezirks ist auch mit anderen möglichen Maßnahmen gefüllt. Sie sollen zum einen dazu beitragen, Autos auszubremsen. Dazu zählen Fahrbahnverengungen und Fahrbahnschwellen, Mittelinseln und Zebrastreifen. Lieferzonen und Parkverbote stehen ebenfalls auf der Liste. Dialogdisplays zeigen Kraftfahrern an, ob sie zu schnell fahren. Dann sind da noch die Maßnahmen, die Durchgangsverkehr verhindern sollen: Einbahnstraßenregelungen, Fußgängerzonen und Diagonalsperren – Reihe von Pollern, die quer auf Kreuzungen aufgestellt werden.

Felix Weisbrich machte deutlich, dass die geplante flächenhafte Verkehrsberuhigung keineswegs nur Nebenstraßen betreffen wird. Dort, wo es nötig sei, sollten auch Straßen des heutigen Hauptnetzes einbezogen – und im Rang herabgestuft werden, sagte er. Beispiele seien die Katzbach-, Möckern- und Großbeerenstraße in Kreuzberg.

Mit „Realexperimenten“ soll den Bürgern vorher gezeigt werden, was der Bezirk plant. Gemeint sind Tests und Versuche, die ein Element der Bürgerbeteiligung werden sollen. „So könnte man übers Wochenende eine temporäre Diagonalsperre aufstellen, was dann Anlass für Bürgerbefragungen oder ein kleines Fest werden könnte“, so Weisbrich.

ADAC kritisiert „dramatischen Eingriff“

„Mit einem solchen Ansatz wird das Problem nicht gelöst“, kritisiert Edgar Terlinden, verkehrspolitischer Sprecher des ADAC Berlin-Brandenburg. Insbesondere bei älteren Bürgerinnen und Bürgern, Menschen mit Handicap sowie vielen Familien werde er einen „dramatischen Eingriff in das individuelle Mobilitätsbedürfnis“ bedeuten.

Eine automobile Erreichbarkeit von Wohngebieten sei unabdingbar, so Terlinden. Ohne ein schlüssiges vernetztes Verkehrskonzept, zum Beispiel mit Nahverkehrsalternativen in Wohnortnähe, werde keine nachhaltige und umweltgerechte Mobilität zu erreichen sein. „Im Gegenteil, es sind ausschließlich Verlagerungseffekte, die damit erzeugt werden“, sagte der ADAC-Verkehrspolitiker. „Auch für den Lieferverkehr, Ver- und Entsorger und Einsatzfahrzeuge ist das Konzept eine Herausforderung und im Notfall sogar hinderlich für Rettungsdienste, wenn sie große Umwege fahren müssen.“

„Es wird Gegnerinnen und Gegner geben“, davon geht auch Annika Gerold aus. Doch sie machte deutlich, dass Bürgerbeteiligung nicht bedeutet, dass auf Verkehrsberuhigung verzichtet wird. Wie gesagt: „Es gibt im gesamten Bezirk objektiven Handlungsbedarf.“ Und das, was jetzt in Angriff genommen werde, sei noch nicht das gesamte Programm.

Beschluss zum Experiment autofreier Graefekiez verzögert sich

Gerold verwies auf das Experiment im Kreuzberger Graefekiez, dessen Beginn der Bezirk und das Wissenschaftszentrum Berlin planen. Wie berichtet soll es dort mehrere Monate lang keine legalen Parkplätze mehr geben – abgesehen von Flächen für Behinderten- und Lieferfahrzeuge sowie Stellplätzen an Elektroladesäulen. Zwar könnte es sein, dass die Bezirksverordnetenversammlung nun doch erst nach der Sommerpause den erforderlichen Beschluss fällt, gab die Stadträtin am Mittwoch zu bedenken. Doch die Verantwortlichen sind sich sicher, dass der Versuch noch 2022 beginnt.

„Solche Experimente kann ich mir auch für andere Bereiche vorstellen“, so Gerold. Vielleicht kürzer und in kleineren Bereichen. Und dann ist da noch die Initiative, mit der Berlin und andere deutsche Städte dem Bund mehr Freiheiten abringen wollen, Tempo 30 anzuordnen. Dann bestünde die Möglichkeit, auch auf den Hauptverkehrsstraßen in Friedrichshain-Kreuzberg den Verkehr zu verlangsamen, sagte die Stadträtin. Damit nicht genug: „Auch dort werden wir massiv Flächen umverteilen müssen“ – zu Lasten von Autos, zugunsten von Fußgängern und Radfahrern.