Spurensuche in Spandau: „Wir sind anders als die, die in Pankow herumlaufen“

In Spandau wohnen 247.400 Berliner. Doch der Bezirk steht selten im Fokus, dabei ist er für die Wahl geradezu entscheidend. Wie tickt Spandau? Wir haben uns umgehört.

Große Wohnblöcke, dazwischen aber auch Ruhe und Grünflächen: die Siedlung im Spektefeld. 
Große Wohnblöcke, dazwischen aber auch Ruhe und Grünflächen: die Siedlung im Spektefeld. Markus Wächter/Berliner Zeitung

Es ist in diesen Tagen ziemlich leicht festzustellen, wann man die Bezirksgrenze zu Spandau überschritten hat – nämlich genau dann, wenn man fast nur noch großformatige CDU- und SPD-Wahlplakate sieht. Kai Wegner, der CDU-Spitzenkandidat, stammt von hier, das steht natürlich auch auf seinen Plakaten.

Sein Gegenspieler bei der Wahlwerbung am Straßenrand ist der Co-Vorsitzende der SPD, Raed Saleh, nicht die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey. Auch Saleh hat in Spandau seinen Wahlkreis.

Bei der Abgeordnetenhauswahl 2021, die nun wiederholt werden muss, lieferten sich CDU und SPD ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Bei den Zweitstimmen lag die CDU leicht vorne, bei den Erststimmen die SPD. Die Grünen folgten weit abgeschlagen auf Platz drei.

Kein Platz für Wokeness und Verkehrsberuhigung im Bezirk? Schon möglich, aber auch kein Platz für Extremisten: Das Wahlergebnis für die AfD lag hier 2021 weit unter dem Berliner Durchschnitt.

Spandau ist für die Grünen kein Schwerpunkt

Die Grünen zumindest wollen hier im Norden auch bei der Wahlwiederholung nicht vehement angreifen; sie haben nur vereinzelt Großplakate aufgestellt. Die Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch tritt im Wahlkreis zwar als Direktkandidatin an, aber nur, weil der Grünen-Kandidat von 2021 weggezogen und sie damit automatisch nachgerückt ist. Spandau sei kein Schwerpunkt ihres Wahlkampfes, heißt es aus ihrem Team.

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Die Rückkehrerin
Birgit ist vor vier Jahren aus Schöneberg zurück nach Spandau gezogen, weil hier die Mieten günstiger sind. Sie hatte gehofft, in ihrem Wohnhaus mehr Anschluss zu finden.

Es stört sie, dass viele Mieter ihren Müll herumliegen lassen. Wegen ihrer Minirente hat sie sich jetzt auch bei Laib und Seele angemeldet und holt dort Lebensmittel.

Vermutlich eine kluge Entscheidung. Die Leute im Bezirk verfolgten den politischen Streit in der Innenstadt mit mäßigem Interesse. Die muntere Gruppe aus zwei Frauen und drei Männern, die an diesem Nachmittag an einem der Tisch im Café der Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde sitzt, bestätigt das. „Wen interessiert schon, ob die Friedrichstraße für den Verkehr gesperrt wird?“, fragt einer der Männer am Tisch.

Siedlung im Spektefeld 
Siedlung im Spektefeld Markus Wächter/Berliner Zeitung

„Einmal Spandau, immer Spandau“

Das Café der Paul-Gerhardt-Gemeinde liegt im Falkenhagener Feld, einer Großsiedlung, die in den 1960er-Jahren erbaut wurde, noch bevor es die Gropiusstadt oder das Märkische Viertel gab. 30.000 Menschen wohnen hier, viele von ihnen verdienen wenig oder bekommen Sozialleistungen. Zwischen den Hochhäusern der Siedlung gibt es aber auch Straßenzüge mit Einfamilienhäusern und picobello gepflegten kleinen Gärten. Wer hier wohnt, ist schon lange im Kiez.

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Die Alteingesessene
Barbara lebt noch immer in dem Haus, in dem sie aufgewachsen ist. Sie hat lange ihre Mutter gepflegt, ist nach deren Tod dann aber in eine kleinere Wohnung gezogen, aus finanziellen Gründen. 

Ihre Kinder sind aus Spandau weggezogen, sie selbst will hierbleiben. „Wir haben hier doch alles“, sagt sie.

„Einmal Spandau, immer Spandau“, sagt Hazan Kuzu, 63 Jahre alt. Er ist Sozialarbeiter in der nahe gelegenen Jugendfreizeiteinrichtung Outreach und lebt seit 15 Jahren in der Altstadt Spandau. „Ich bin eigentlich in Wedding aufgewachsen, aber meine Lebensgefährtin wollte hier nicht weg“, erzählt er. Also zog er zu ihr und versucht nun, die sozial schwachen Menschen und Rentner zu seinen Gesprächsgruppen ins Jugendzentrum zu holen, in dem sich eben nicht nur Jugendliche treffen.

Es sei schwierig, die Leute zu motivieren. „Wenn man sie nur einlädt, kommt keiner“, sagt er. „Man muss schon durch den Kiez gehen und die Menschen direkt ansprechen.“

Auch die Gruppe im Café will eigentlich lieber unter sich bleiben und nicht mit der Berliner Zeitung reden. Dann sprechen sie aber doch, wollen aber allenfalls ihre Vornamen nennen.

Besucher im Café VLNR:
Detlef, Birgit und Barbara.
Besucher im Café VLNR:Detlef, Birgit und Barbara.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Die Koalition ziehe nicht gemeinsam an einem Strang

Mit der Bürgermeisterin sei er zufrieden, sagt der 63-jährige Detlef. „Sie macht das eigentlich ganz gut.“ Es stellt sich aber schnell heraus, dass er die Bezirksbürgermeisterin meint. Die ist immerhin auch in der SPD, so wie die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey, bei der man dann doch ein paar Abstriche macht. Man habe sich mehr erhofft von ihr, sagt einer in der Gruppe, ohne näher darauf einzugehen. „Die ziehen einfach nicht an einem gemeinsamen Strang“, sagt einer der beiden anderen Männer am Tisch und meint die rot-grün-rote Koalition im Roten Rathaus.

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Der Gemeindemitarbeiter
Der Theologe Helmut Liefke arbeitet seit mehr als 30 Jahren in der Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde im Spektefeld.

Er sieht, wie die Zahl der Hilfeempfänger stetig steigt, und wünscht sich von der Politik, dass alle Parteien mehr am gesellschaftlichen Zusammenhalt arbeiten als bisher. 

Die Frauen fangen dann an zu erzählen, was ihnen wirklich Sorge bereitet: die Nebenkosten und die Frage, wie lange man sich noch die Wohnung leisten kann. Barbara, 64, wohnt seit ihrer Geburt in Spandau und wollte hier auch nie weg, anders als ihre Kinder. „Mein Sohn sagt, dass er die Leute hier komisch findet“, erzählt sie. „Na ja, wir sind schon anders als die, die in Pankow herumlaufen.“

„Wo wir wohnen, machen andere Urlaub“

Dazu gehöre auch, dass man eher unter sich bleibt. Die Fünfergruppe, die sich hier jeden Freitag im Café trifft, kennt sich schon lange. Und aus Spandau weg will keiner. „Klar gibt’s hier auch Verkehr, aber es ist grün und ruhig“, sagt Barbara. „Wo wir wohnen, machen andere Urlaub.“

Vom Nebentisch schaltet sich nun Birgit ein. Sie ist 65 Jahre alt und wegen ihrer kleinen Rente von Schöneberg wieder nach Spandau zurückgezogen, wo sie geboren und aufgewachsen ist. Für ihre 49-Quadratmeter-Wohnung hat sie zunächst 500 Euro gezahlt. „Aber Anfang Dezember habe ich einen Brief von der Verwaltung bekommen, dass es ab 1. Januar 700 Euro sind“, erzählt sie. Ein ziemlicher Schreck sei das gewesen, ausgerechnet am Nikolaustag.

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Die Engagierte
Hatic Ates leitet seit vielen Jahren die Familiengruppe, die sich immer freitags im Schwedenhaus trifft, das auch zur Paul-Gerhardt-Gemeinde gehört. Es kommen türkischstämmige Frauen mit ihren Kindern, jetzt schon in der zweiten Generation. Viele haben keinen deutschen Pass, aber Hatic Ates sagt, sie fühlten sich als Spandauerinnen.

Barbara stimmt zu: „Ja, die Briefe kommen immer gerade vor Weihnachten.“ Sie lebt in dem Haus, in dem sie bei ihrer Mutter aufgewachsen ist. Nachdem ihre drei Kinder ausgezogen sind, ist sie allerdings in eine kleinere Wohnung umgezogen. 600 Euro zahlt sie für 70 Quadratmeter und ist ganz zufrieden. Allerdings sei der Fahrstuhl ein halbes Jahr defekt gewesen, nicht ganz einfach für sie, da sie im fünften Stock wohnt und kürzlich auch noch ziemlich krank war.

Die Hausverwaltung habe in den vergangenen Jahren auch mehrfach gewechselt. Erst war es die GSW, danach die Deutsche Wohnen, nun die Degewo. Auch bei den Mietern sei es ein ständiges Kommen und Gehen. Von den Nachbarn im Haus kennt sie nur noch die 80-jährige Frau, die unter ihr wohnt. „Die ist auch schon so lange da wie ich.“

Immer mehr Menschen sind abhängig von der Lebensmittelausgabe. 
Immer mehr Menschen sind abhängig von der Lebensmittelausgabe. Markus Wächter/Berliner Zeitung

Die Lebensmittelausgabe wird immer notwendiger

Birgit, die sich inzwischen mit an den Tisch gesetzt hat, macht die Anonymität in ihrem Mietshaus zu schaffen. Sie habe sich mehr Kontakte erhofft, als sie vor vier Jahren wieder hergezogen sei. „Ich habe mich bei allen Nachbarn vorgestellt, aber die meisten grüßen kaum“, erzählt sie. „Jeder geht schnell in seine Wohnung, macht die Tür hinter sich zu und dann hört man, wie sich der Schlüssel im Schloss dreht.“ Sie muss jetzt los zur Essensausgabe, weil gerade ihre Nummer aufgerufen wurde.

So hat Spandau bei der Abgeordnetenhauswahl 2021 abgestimmt:

In der Paul-Gerhardt-Gemeinde werden jeden Freitag von 12 bis 16 Uhr vom Verein Laib und Seele Lebensmittel ausgegeben. Dazu müssen sich die Bedürftigen vorher registrieren und bekommen dann eine Nummer ausgehändigt, die sie zur Abholung einer Kiste Lebensmittel berechtigt. „Früher konnten sich die Leute einfach anstellen, aber das hat ein Hauen und Stechen gegeben, als es immer mehr wurden“, erzählt Helmut Liefke. Mit den Nummern weiß jeder, dass er nun auch wirklich an die Reihe kommt.

Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde 
Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde Markus Wächter/Berliner Zeitung

Gestiegenen Lebensmittelpreise wegen der Inflation

Der 65-jährige Theologe ist seit 1991 bei der Gemeinde angestellt. In den letzten Jahren hat er miterlebt, wie immer mehr Menschen von diesen Lebensmittelspenden abhängig wurden. „Die Zahl ist massiv angestiegen“, sagt er. Allein bei den Senioren in der Gemeinde sei die Zahl der Zuwendungsempfänger von 27 auf 34 Prozent angestiegen. 110 Haushalte mit mehr als 450 Menschen versorgt die Tafel allein hier in seiner Gemeinde. „Gerechnet haben wir anfangs mit etwa 70 bis 80 Menschen.“ Er wünscht sich von der Politik, dass alle Parteien mehr an einem Strang ziehen, um die sozialen Bedingungen zu verbessern.

Wie prekär die Lage im Falkenhagener Feld ist, zeigt ein Brandbrief, den verschiedene Initiativen aus dem Bezirk vor einiger Zeit an Sozialsenatorin Katja Kipping geschrieben haben. Es ging um die gestiegenen Lebensmittelpreise wegen der Inflation, der Brief war aber im Grunde ein Appell für mehr Aufmerksamkeit für die sozialen Belange hier am Rande der Stadt. Die Senatorin kam vergangene Woche und traf sich mit den Vertreterinnen und Vertretern des Quartiersmanagements und des Vereins Laib und Seele.

Bei der Essensausgabe des Vereins Laib und Seele. 
Bei der Essensausgabe des Vereins Laib und Seele. Markus Wächter/Berliner Zeitung

Katja Kipping hört geduldig zu, als ihr die Anwesenden ihre Anliegen schildern. Zu wenig Grundsicherung, zu hohe Lebensmittelpreise und jetzt die Inflation – da kann die Sozialsenatorin nur wenig machen. Sie schiebt die kleine Broschüre über den Tisch, in der der Härtefallfonds Energieschulden vorgestellt wird, den das Land aufgelegt hat. Hier können sich Einkommensschwache anmelden, wenn sie ihre Energiekosten nicht mehr zahlen können, um Gas- und Stromsperrungen abzuwenden.

Für viele ist Spandau das richtige Berlin

Später gibt es dann noch eine Presseerklärung zusammen mit der Gründerin der Berliner Tafel, Sabine Werth, in der beide Frauen ein neues Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung fordern, das den Supermärkten verbieten soll, Lebensmittel wegzuwerfen. Auch das ist aber eine Bundesangelegenheit.

Helmut Liefke, der auch bei dem Gespräch dabei war, hat ohnehin nicht allzu viel davon erwartet. Im Café sind freitags, wenn die Lebensmittel ausgegeben werden, die Preise für Kaffee und Kuchen halbiert – so ermöglicht die Gemeinde Teilhabe.

Ein paar Schritte weiter die Straße hinunter gibt es einen weiteren regelmäßigen Treff. Immer freitags lädt Hatic Ates im sogenannten Schwedenhaus zur Familiengruppe. Das Schwedenhaus ist ein rotes Holzhaus, das in einem großen Garten steht. Träger ist ebenfalls die Gemeinde, auch vom Bezirksamt kommt eine finanzielle Förderung. Es gibt hier Nachbarschaftstreffs, mittwochs ein offenes Café, eine Seniorengruppe und eben Hatic Ates Familiengruppe. Es sind hauptsächlich türkischstämmige Frauen mit ihren Kindern. Die meisten wohnen gleich gegenüber im Wohnblock in der Stadtrandstraße und kennen sich schon ewig. Auch sie bleiben am liebsten unter sich, sprechen aber bereitwillig und freundlich mit den Besuchern von der Berliner Zeitung.

Auch sie sind alteingesessene Spandauerinnen, wollen hier nicht weg. „Wenn wir aus dem Urlaub zurückkommen, freuen wir uns, wieder hier zu sein“, sagt Hatic Ates. „Weil wir dann wieder zu Hause sind.“

Beim Frauen-Treff im Schweden-Haus mit der Leiterin Hatic Altes links im hellblauen Oberteil.
Beim Frauen-Treff im Schweden-Haus mit der Leiterin Hatic Altes links im hellblauen Oberteil.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Es gibt hier zu wenige deutsche Kinder, sagt die türkischstämmige Mutter

Ihre Probleme liegen etwas anders als bei den Senioren. Die Mütter beklagen die mangelnde Integration in Kita und Schule. „Die Kinder lernen kaum noch Deutsch“, sagt die 45-jährige Elgin. Dafür gebe es schlicht nicht mehr genug deutsche Kinder in den Gruppen. „Die Freundinnen meiner Tochter hießen Julia und Melanie“, sagt sie. „Diese Namen hört man gar nicht mehr.“ Der Fünfjährige, dem sie gerade den Anorak ausgezogen hat, ist ihr Enkel und der Sohn ihrer Tochter Gizem. Die 28-Jährige trägt noch einen kleineren Sohn auf ihrem Arm. Wie ihre Mutter spricht sie ebenso gut Deutsch wie Türkisch.

Für ihre Kinder gilt das nicht. Da haben Corona und der lange Lockdown viel kaputt gemacht, sind sich die Frauen in den Raum einig. Mittlerweile sitzen zehn Frauen um den Tisch. Die meisten von ihnen haben keinen deutschen Pass. „Ich brauche den nicht“, sagt Gizem. Auch nicht, um zu wählen? „Das wäre schon ein Grund“, gibt sie zu. Aber eigentlich möchte sie später mit der Familie in die Türkei gehen. Die anderen Frauen lachen ungläubig. Auch wenn die meisten von ihnen in der Herkunftssprache und -gesellschaft verwurzelt sind, plant kaum eine, Berlin den Rücken zu kehren. „Wir sind Spandauer“, sagt Hatic Ates. „Einmal Spandau, immer Spandau.“

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