Warum jeder, der in Mitte keine Wohnung findet, nach Spandau ziehen sollte

Unser Autor ist zugezogen. Nach Spandau. Seine Freunde reagierten erst schockiert. Doch zu Unrecht. Spandau ist pures Glück. Eine Ode an den Bezirk.

Berlin Spandau; Altstadt, Lindenufer; hier fließen Havel und Spree zusammen
Berlin Spandau; Altstadt, Lindenufer; hier fließen Havel und Spree zusammenimago/Jürgen Ritter

In Volker Kutschers aktuellem Roman „Transatlantik“ spielt kurzzeitig die Schönwalder Straße eine Rolle. Charlotte Ritter, eine der Hauptfiguren, findet eine entsprechende, nicht ganz unwichtige Adresse in einem Notizbuch, als ihr mit etwas Verzögerung dämmert: „Es gab tatsächlich zwei Schönwalder Straßen in Berlin, einmal die im Wedding, die sie schon abgeklappert hatte. Die zweite lag in Spandau. Stadtauswärts.“

Der Roman spielt im Jahr 1937, doch der Berliner Blick auf seinen westlichsten Bezirk lässt sich bis heute so beschreiben: Spandau. War da was? Das ist doch stadtauswärts…

Vor eineinhalb Jahren bin ich hierhergezogen und wenn ich das jemandem erzähle, ähneln die Reaktionen oft solchen auf eine Krebsdiagnose und jenen auf eine ungeplante Schwangerschaft. „Ach, wirklich?“ „Krass, im Ernst?“ Oder: „Oh, wie kommt das denn?“

Nicht einmal auf den Umzug nach Lichtenberg wurde so heftig reagiert

Nicht einmal als ich einst aus dem damals schwer angesagten Neukölln ins damals eher nicht so angesagte Lichtenberg („Nazis! Stasi! Platte!“) zog, waren die Auffassungen annähernd so einhellig und ungeschminkt negativ wie jetzt: In Spandau, so glaubt fast jeder mitteilen zu müssen, da will doch niemand wohnen, das ist doch eigentlich schon Brandenburg.

„Jetzt verlasst ihr mich alle und zieht weg aus Berlin“, scherzt ein Freund, als die beiden anderen Mitglieder unseres dreiteiligen Freundeskreises fast zeitgleich umziehen. Der eine nach Köln, gute 500 Kilometer entfernt. Und der andere, ich, nach Spandau, 10 Minuten mit dem Regionalexpress. Na gut, manchmal auch mal länger, wenn die S-Bahn hakt.

Die rigorose Ausgliederung Spandaus aus dem Berlin-Kosmos beruht natürlich ein wenig auf Gegenseitigkeit und man könnte die Frage nach Huhn und Ei stellen. Jedenfalls mache ich, der bisher nur einen Bruchteil seines Lebens hier verbracht hat, die bislang ungewohnte Erfahrung einer recht starken Identifikation mit meiner neuen Heimat. Dass Romanautor Volker Kutscher  nur eine einzige Schönwalder Straße in Berlin zu kennen schien, hat mich tatsächlich 200 Seiten lang geärgert. Vielleicht gilt auch hier, dass Konvertiten eigentlich die schlimmsten Fanatiker sind.

Was Berliner von Spandau kennen, sind Weihnachtsmarkt und Bahnhof

Denn auch ich habe nie gesagt: „Wenn ich groß bin, möchte ich einmal Spandauer werden!“ Ich kannte den Weihnachtsmarkt, den Bahnhof, das war‘s. Es war die pure Not, die mich und meine Familie nach Spandau trieb. In Lichtenberg wurde die Wohnung zu klein, der Jahre dauernde Versuch, eine passende Wohnung zu finden, ist eine eigene Geschichte.

Doch als im Haus eines Freundes, der schon länger hier lebte, eine größere und dazu noch bezahlbare Wohnung frei wurde, ergriffen wir die Chance. Bereut haben wir das nicht – was natürlich unter uns bleiben muss, denn Spandaus Image hat auch etwas Gutes: Die Gefahr, wie viele Innenstadt-Bezirke am Berlin-Hype zu ersticken, droht hier eher nicht.

Dabei, auch das muss aber bitte unbedingt unter uns bleiben, hat Spandau durchaus etwas zu bieten. Zum Beispiel eben auf der Schönwalder Straße, oder vielleicht besser: dahinter. Wenn man die weiter geradeaus fährt, ob mit Auto, Rad oder dem allseits verfügbaren Bus, ist man schnell im Spandauer Forst – und kann durch den Wald spazieren und im Wildgehege Damwild oder Wildschweine bestaunen.

Oder eben auf dem Weihnachtsmarkt in der Altstadt, der nach seiner Corona-Zwangspause wieder an Fahrt aufnimmt wie das Riesenrad im angrenzenden „Familiy Wonderland“.

Oder eben am Bahnhof, von dem der Regional- und Fernverkehr nicht nur die halbe Republik ansteuert, sondern auch sonst schwieriger erreichbare Attraktionen wie „Karls Erdbeerhof“ in Elstal.

Länderküche und kulinarische Tradition

Doch eigentlich, und das war in anderen Bezirken oft anders, muss man hier gar nicht unbedingt weg. Jedenfalls nicht ständig. Da ist nicht nur die Natur, neben dem Spandauer Forst zum Beispiel eine Vielzahl von Parks, wie ich sie an anderen Wohnorten lange suchen musste. Oder die Insel Eiswerder, umgeben von Wasser, an dem es hier sowieso nicht mangelt: In Spandau küssen sich Havel und Spree.

Auch, ich verfalle jetzt in einen fürchterlichen Duktus, damit Sie bloß nicht herkommen, „für das leibliche Wohl ist gesorgt“: In Spandau spiegelt sich die West-Berliner Migrationsgeschichte, es gibt variantenreiche Landesküchen mit verschiedenen Niveaustufen. Unser Lieblings-Grieche, der stilecht zwischen kleinen Fachwerkhäusern in Havelnähe residiert, rang selbst dem besagten Freund, der mich schon außerhalb Berlins verortet hatte, etwas Anerkennung ab.

Überhaupt hat Kulinarik in Spandau Tradition: In der Klosterstraße wird seit den 1920ern an derselben Stelle jenes Eis verkauft, das heute unter dem Namen „Florida“ in Staaken hergestellt und im restlichen Berlin vertrieben wird. Wer einmal von der Eisdiele zur Eisfabrik gefahren ist, weiß übrigens, wie weitläufig Berlins bevölkerungsärmster Bezirk sein kann.

In dieselbe Zeit wie die Anfänge von „Florida Eis“ fällt die Gründung der „Konditorei Fester“ in der Altstadt. Hier isst man Torte unter dem Blick preußischer Soldaten, die auf einem Wandgemälde an der Havel entlang flanieren.

Geschichte und Popkultur: Rammstein drehen hier Videos, die Ärzte haben sich gegründet

Spandau hat eine eigene Geschichte und die wird betont. Klar, zu Nationalsozialismus und DDR, den klassischen Themen in Berlin, diesem „Rom der Zeitgeschichte“, gibt es auch in Spandau viel zu erzählen. Zum Beispiel im erwähnten Staaken, das bis 1989/90 geteilt war wie Berlin und Deutschland selbst. Aber hier geht es eben noch etwas tiefer. Dass die amtierende Bürgermeisterin Carola Brückner (SPD) ihre Doktorarbeit über „Das ländliche Pfarrbenefizium im hochmittelalterlichen Erzbistum Trier“ verfasst hat, ist vielleicht kein Zufall, denn hier ist auch das Mittelalter vielerorts noch zum Greifen nah.  

Zum Beispiel in der Nikolaikirche in der Altstadt, die im 14. Jahrhundert erbaut wurde. Oder in der Zitadelle, die mit ihren Kanonen und ihrem Juliusturm eine Gewaltgeschichte der Vormoderne erzählen kann – und zugleich popkulturell angebunden ist, nicht nur als berühmter Konzertort. Rammstein drehten hier Teile ihres Clips zu „Deutschland“ mit den in der Ausstellung „Enthüllt“ versammelten Statuen, die in Berlin keiner mehr sehen sollte.

Dass sich „Die Ärzte“ in der hiesigen Diskothek Ballhaus gegründet haben und Bela B. in Spandau aufgewachsen ist, weiß ja sowieso fast jeder. Belas einstiger Stamm-Plattenladen in der Wilhelmsstadt existiert noch immer und auch das ist ja irgendwie historisches Erbe.

Aber klar, das Ballhaus ist nicht das Berghain und mein Blick auf den Bezirk ist der eines Menschen mit Kindern – nicht der eines 20-Jährigen, der vielleicht nur einen coolen Ort kennt: Die U7, raus aus Spandau. Wenn Benedikt Eichhorn und Horst Evers auf ihrem Album „Bezirkslieder“ einst über Spandau dichteten „Wo ist nachts keine Sau, aber die Havel blau“, trafen sie vermutlich einen Punkt, dessen Relevanz aber sehr vom Alter abhängt. Universell gültig ist eine andere Zeile aus dem Lied: „Viele waren da ja noch nie.“ Übrigens auch jene, die eine besonders ausgeprägte Meinung zu dem Bezirk haben. Das könnte man mal ändern – einfach stadtauswärts fahren. Aber das bleibt bitte unter uns.

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