Berliner Jobcenter: Sittenwidriger Lohn, direkt vom Amt

Das Anschreiben klingt zunächst nach einer guten Botschaft: „Sehr geehrte Frau Eckhoff *, ich freue mich, Ihnen folgenden Arbeitsplatz vorschlagen zu können.“ So informierte das Jobcenter Reinickendorf am 16. Juli eine Pankower Arbeitssuchende über eine Sekretärinnenstelle. Arbeitgeber: eine Umzugsfirma. Anforderungen: erweiterte Kenntnisse in sämtlichen Büroarbeiten. Arbeitszeit: Vollzeit. Gehalt laut dem Vermittlungsvorschlag der Arbeitsagentur: 700 bis 800 Euro im Monat. „Bewerben Sie sich bitte umgehend schriftlich oder per E-Mail“, fordert das Jobcenter die Frau auf.

Sie tat es nicht. Und zwar zu Recht: Zufällig stand an jenem Tag vor dem Jobcenter Pankow ein Bus der Initiative „Irren ist amtlich“ – eine vom Berliner Arbeitslosenzentrum (Balz) organisierte jährliche Aktion, bei der innerhalb von sechs Wochen alle zwölf Berliner Jobcenter angefahren werden, um eine behördenunabhängige Beratung zu bieten. Die Frau legte ihren Bescheid vor, die „Balz“-Experten sagten ihr sofort, dass der angebotene Lohn sittenwidrig sei. Bei der geforderten Qualifikation läge die ortsübliche Bezahlung bei etwa 1 500 Euro, das Angebot also um rund 50 Prozent darunter. Sittenwidrigkeit beginnt nach allgemeiner Rechtsprechung bei 30 Prozent Unterbezahlung.

Dass ein Jobcenter in einen sittenwidrig bezahlten Job vermittelt, sei kein Einzelfall, sagt Frank Steger, Organisator der Beratungstouren von „Balz“, dem Arbeitlosenzentrum der evangelischen Kirchenkreise. Zwar sind bei den rund tausend Gesprächen während der diesjährigen Tour keine weiteren Fälle dieser Art bekannt geworden. Und auch die Arbeitsagentur kann zum Problem von Dumpinglöhnen auf dem Berliner Arbeitsmarkt keine genauen Daten liefern. Doch das Thema ist erkannt: Man wolle keine Zeit verlieren, sagt der Sprecher der regionalen Arbeitsagentur, Olaf Möller, um gegen gesetz- oder sittenwidrige Löhne vorzugehen. Dies ist Teil der zwischen Land und Regionaldirektion kürzlich vereinbarten Kooperation. Nächste Woche sollen den Jobcentern erste Vorschläge unterbreitet werden. So werden künftig die Löhne der rund 100 000 Berliner Aufstocker (Erwerbstätige, die trotzdem Hartz IV beziehen) systematisch überprüft. „Wenn wir rechtswidrige Löhne feststellen, werden wir an den Arbeitgeber rangehen“, kündigt Agentursprecher Möller an. Für den Pankower Fall hat sich das Jobcenter entschuldigt, bei Frau Eckhoff ebenso wie bei den 32 anderen, denen diese Stelle angeboten wurde. Sie wurde aus der „Jobbörse“ gelöscht, die Firma wurde kontaktiert.

Für Doro Zinke, DGB-Chefin für Berlin und Brandenburg, sind die Dumpinglöhne kein Zufall, sondern System. Bis zur rot-grünen Arbeitsmarktreform von 2005 begann die Sittenwidrigkeit laut Zinke direkt unterhalb des Tariflohns oder der ortsüblichen Bezahlung. Jetzt liegt die Grenze 30 Prozent niedriger – und jede akzeptierte Unterbezahlung senkt den ortsüblichen Durchschnitt. So entstehe planmäßig ein „Billiglohnsektor“, sagt Zinke. „Das macht uns die Preise bei Tarifverhandlungen kaputt.“ Es genüge auch nicht, nur die Aufstocker-Fälle auf rechtswidrige Löhne zu prüfen. Dies müsse bei allen Angeboten geschehen. Sehr oft gebe es Stellen über die Jobcenter, in denen der Arbeitslohn nicht genau beziffert, sondern nur ein „Entgelt nach Vereinbarung“ in Aussicht gestellt werde. Das heißt: Wie hoch der Lohn ist, erfahren die Arbeitssuchenden erst in der Firma.

Der Druck, eine Stelle trotz Unterbezahlung anzunehmen, ist hoch, wie Balz-Experte Frank Steger sagt. Denn wer sich weigert, riskiert eine 30-prozentige Kürzung seines Hartz-IV-Anspruchs für drei Monate. Ohne Beratung hätte auch Frau Eckhoff den Job wohl angenommen. Und gehörte jetzt zu den Aufstockerinnen.

(* Name geändert)