Balbina O. geht am Spreeufer nahe dem Fähranleger Schloßbrücke spazieren. Ihren Sonnenhut hat sie tief ins Gesicht gezogen. Die Frau mit den kurzen grauen Haaren und der schwarzen Brille sieht traurig aus. Sie hangele sich von Tag zu Tag, sagt sie. Das hat sie schon getan, bevor die Preise so gravierend angestiegen sind. Doch jetzt empfindet sie die Situation als noch bedrohlicher, sie hat Angst vor der Armut im Alter.
Die ehemalige Altenpflegerin aus Hellersdorf ist seit einem Jahr in Rente, leben kann sie von ihrer Altersversorgung jedoch nicht. Deshalb erhält sie vom Staat zusätzlich eine Grundsicherung.
„Ich fühle mich so, als ob ich auf ganzer Linie versagt hätte“, sagt Balbina O.*, 66 Jahre alt. In ihrem Heimatland Polen hatte sie auf Lehramt studiert und danach an einer Grundschule gearbeitet. Als sie in den 1990er-Jahren der Liebe wegen nach Berlin zog, wurde ihre Ausbildung hier nicht anerkannt.
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Zunächst war ihr Ehemann, ein Deutscher, der Hauptverdiener gewesen. Als er sie und ihre beiden Töchter verließ, weil er sich in eine andere Frau verliebt hatte, musste Balbina O. zusehen, wie sie sich und die Kinder allein durchbrachte. „Das war eine harte Zeit für uns. Ich rutschte sofort in Hartz IV ab, weil ich keinen Job hatte“, erinnert sie sich. Ihre Töchter waren damals erst zwei und vier. Die Sachbearbeiterin bei der Arbeitsagentur habe sie sehr unter Druck gesetzt und ihr gesagt, dass sie schnellstmöglich eine Umschulung machen müsse, wenn sie die Leistungen weiterhin erhalten wolle.
Ich wurde täglich mit Krankheiten und auch häufig dem Tod konfrontiert. Das hat mich sehr mitgenommen
„Ich war zu diesem Zeitpunkt noch traurig und erschöpft von meiner Trennung und wusste gar nicht, wie ich das mit zwei kleinen Kindern schaffen sollte. Die brauchten mich so sehr, weil doch ihr Vater weg war“, sagt Balbina O. Aber sie hatte keine andere Wahl und musste sich um einen Ausbildungsplatz als Altenpflegerin bewerben. Dabei hätte sie viel lieber mit Kindern gearbeitet.
Balbina O. hat ihr Schicksal angenommen. Die beiden Mädchen waren tagsüber in einer Kita, sie absolvierte ihre Ausbildung. Sie sei oft völlig übermüdet am Arbeitsplatz angekommen, weil die Kinder so schlecht schliefen. „Zum Glück habe ich von den älteren Menschen viel Dankbarkeit zurückbekommen. Aber ich hatte Berührungsängste. Ich wurde täglich mit Krankheiten und auch häufig dem Tod konfrontiert. Das hat mich sehr mitgenommen“, erklärt Balbina O. Schon ein Verbandswechsel bei einer blutenden Wunde habe sie belastet, aber das habe niemanden interessiert.
Schon gar nicht die „Damen auf dem Amt“. Sie habe sich in solchen Momenten immer gefragt, ob die Sachbearbeiterinnen, die sie betreuten, keine Kinder haben, sagt sie heute. Sie hätten kein Gespür dafür gehabt, wie schwer es alleinerziehende Frauen haben, wenn der Ex-Mann noch nicht mal bereit ist, seinen Kindern Unterhalt zu zahlen.
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Nach der Ausbildung arbeitete Balbina O. 25 Jahre lang als examinierte Altenpflegerin in einem Berliner Seniorenheim. „Obwohl es mir keinen Spaß gemacht hat. Ich hatte keine Kraft mehr, noch einen dritten Beruf zu lernen. Und vor allem nicht das Geld. Die hätten mir ja bei Ungehorsam sofort die Leistungen gekürzt“, sagt sie. Sie habe damals große Befürchtungen gehabt, mit ihren Kindern auf der Straße zu landen.
Sie verdiente zwischen 1700 und 2000 Euro netto und musste davon ihre Familie ernähren. Das Geld habe hinten und vorne nicht gereicht. Jedes Mal, wenn eine Klassenfahrt anstand oder eines der Mädchen mit einer kaputten Hose oder Schuhen nach Hause kam, habe sie gezittert. Sie selbst habe auf vieles verzichtet, „wenigstens die Kinder sollten es doch gut haben“.
Balbina O. glaubt, dass es sich viele Menschen gar nicht vorstellen können, wie es ist, wenn man jeden Cent umdrehen muss. Wenn man bei jedem Joghurtbecher, jedem Stück Käse oder Brot im Supermarkt akribisch die Preise vergleicht. Oder dass man für einen Besuch im Zoo oder im Kino wochenlang sparen muss.
Heute habe sie ihren Kindern gegenüber noch immer Schuldgefühle, weil sie ihnen nicht das Leben ermöglichen konnte, wie es andere Eltern konnten. „Wir sind nie im Urlaub gewesen. Der war einfach finanziell nicht drin“, sagt sie.
Nicht einmal die Ausbildung und das Studium konnte sie ihren Töchtern ermöglichen. Sie mussten Bafög beantragen und zahlen das heute noch immer ab. Viele der Mitschüler ihrer Töchter hätten es leichter gehabt, sagt Balbina O.
Ihre monatliche Rente beträgt 620 Euro
Sie habe dennoch immer versucht, den Kindern noch „etwas zuzustecken“ und bis kurz vor ihre Rente selbst auf fast alles verzichtet. Sie ist das Sparen also gewohnt. Doch so schlimm wie heute sei ihre Situation noch nie gewesen. Seit sie nicht mehr arbeitet, hat sie noch weniger Geld zur Verfügung. Denn ihre monatliche Rente liegt beträgt 620 Euro. Zusätzlich erhält sie 200 Euro Grundsicherung vom Amt. „Sonst könnte ich gar nicht überleben“, sagt Balbina O.
Vor eineinhalb Jahren ist sie von Neukölln in eine Einzimmerwohnung nach Hellersdorf gezogen. Dort sind die Mieten deutlich geringer. Eingelebt hat sie sich in ihren neuen Kiez noch nicht. „Es ist mir sehr schwergefallen, meine vertraute Umgebung zu verlassen. So ein Umzug nach so vielen Jahren ist auch immer ein neuer Lebensabschnitt“, sagt sie.
Kassensturz: Rentnerin zahlt 445 Euro Miete
Balbina O. zahlt 445 Euro für 40 Quadratmeter. Hinzu kommen noch der Strom mit 30 Euro sowie etwa 20 Euro für Versicherungen und momentan nur neun Euro für das BVG-Ticket. Für ihr Handy hat sie sich den günstigsten Tarif mit nur einem Gigabyte ausgesucht. Das Datenvolumen reiche ihr. Dafür koste der Vertrag nur 59 Euro für ein ganzes Jahr. Ihren Festnetzanschluss hat sie gekündigt.
Von den 320 Euro, die ihr noch bleiben, muss sie Lebensmittel und Kosmetika bezahlen sowie Medikamente und spezielle kosmetische Pflegemittel. „Ich habe chronische Erkrankungen – Rheuma und Neurodermitis – und bekomme nur die Standardmedikamente von der Krankenkasse bezahlt“, sagt sie. Für ihre Kopfhaut benötige sie zum Beispiel ein besonders schonendes Shampoo und eine beruhigende Lotion für ihren Körper. 50 Euro im Monat kostet sie das zusätzlich.
Sie leidet auch unter starken Rückenschmerzen, weil sie sich durch das jahrelange Heben von älteren Menschen mehrere schwere Bandscheibenvorfälle im Lendenwirbelbereich zugezogen hat. Ihr Arzt hat ihr jetzt vorgeschlagen, dass sie sich eine Spezialmatratze anschaffen soll. „Die kann ich mir gar nicht leisten“, erklärt Balbina O.
Wenn es ihr finanziell besser gehen würde, würde sie sich auch ab und zu mal eine Massage gönnen oder schwimmen gehen. „Ein bisschen Wellness für die Seele, um die Schmerzen für einen Augenblick erträglicher zu machen“, sagt sie und seufzt. Sie macht jeden Morgen ihre Rückenübungen und nimmt „ein paar Ibuprofen“, sie habe keine Wahl.
Sie wünscht sich von den Politikern, dass ihr früherer Beruf mehr anerkannt und besser bezahlt wird. „Viele meiner Kollegen opfern sich auf, bis sie nicht mehr können, und haben fast alle kaputte Knochen so wie ich. Es ist traurig, dass wir dann im Alter nicht über die Runden kommen können und auch bis ans Lebensende abhängig vom Staat sein müssen.“ Balbina O. ärgert sich über die soziale Ungerechtigkeit.
„Eigentlich müsste ich mich aufgrund meiner gesundheitlichen Probleme besonders gesund ernähren, aber das schaffe ich von den 270 Euro auch nicht“, sagt sie. Vor allem jetzt nicht, bei den steigenden Lebensmittelpreisen.
Berliner Rentnerin muss nach Sonderangeboten schauen
Balbina O. schaut im Supermarkt nach Sonderangeboten, um über die Runden zu kommen. Wenn sie Glück hat, ist auch einmal ein Stück Fisch oder Fleisch dabei. „Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich mir das letzte Mal ein Stück Fleisch zum Normalpreis gekauft habe“, erzählt sie.
Hauptsächlich ernährt sie sich von Nudeln und Soßen in verschiedenen Varianten – mit Curry zum Beispiel, mit Tomaten oder Kräutersahne. Die Soßen bereitet sie selbst zu. Und sie kocht immer gleich für die nächsten drei Tage vor. Allzu einfallsreich sei das nicht, sagt Balbina O. und zupft verlegen am Ärmel ihrer weißen Bluse. Doch wie soll man bei 270 Euro im Monat auch noch kreativ beim Kochen sein?
Sie geht alle zwei Wochen zur Tafel und besucht noch immer regelmäßig die Tee- und Wärmestube Neukölln. Eine ganze Stunde braucht sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin. Um beim Essen ein bisschen Abwechslung zu bekommen, aber auch, um Gemeinschaft mit anderen Bedürftigen zu erfahren und das Gefühl zu haben, mit ihrem Schicksal in der Stadt nicht allein zu sein. Das tröste sie sehr, sagt Balbina O. „Ich kenne hier inzwischen so viele Menschen, und es tut gut, sich hier austauschen zu können. Sie haben ja alle die gleichen Sorgen.“
Außerdem freut sie sich über die warme Mahlzeit, die sie gratis bekommt. Die Portion sei immer üppig und halte lange vor. Die Mitarbeiter seien herzlich und „kümmern sich sehr um die Besucher und helfen ihnen auch mal dabei, ein Problem zu lösen“. So wie im vergangenen Jahr, als sie einmal Schwierigkeiten mit einer Nebenkostenabrechnung ihres Vermieters hatte, die sie nicht verstand.
Auch Weihnachten verbringt die Rentnerin gern in der Tee- und Wärmestube. „Am zweiten Feiertag gibt es immer ein Gänse-Essen mit Klößen und Rotkohl und auch Geschenke für uns. Im letzten Jahr haben wir warme Kleidung für die Wintermonate bekommen“, erinnert sie sich. Es sei schön, an den Festtagen nicht allein zu sein. An ihre Kinder wolle sie sich nicht zu sehr klammern. Die seien erwachsen und führten schließlich ihr eigenes Leben.
Die meisten wollen Spaß haben. Und wenn man da nicht mithalten kann, wenden sie sich ab.
Sie müsse sich sehr einschränken, das habe sie einsam gemacht, sagt Balbina O. Viele Freunde hätten sich mit den Jahren von ihr zurückgezogen, weil sie sich keine Restaurantbesuche oder Besuche von Veranstaltungen mehr leisten könne. „Die meisten wollen Spaß haben. Und wenn man da nicht mithalten kann, wenden sie sich ab.“
Mit den Männern habe sie schon länger abgeschlossen. Die meisten hätten Angst, dass sie von ihnen finanziell versorgt werden wolle, glaubt Balbina O. Schmerzhafte Erfahrungen hätten dazu geführt, dass sie sich privat zurückgezogen hat. „Armut grenzt einen sozial aus“, sagt sie.
* Alle Namen sind verändert, der Redaktion aber bekannt.