Berliner Staatssekretär Andrej Holm: „Ich wusste, was ich gemacht hatte – und was nicht“
Berlin - An diesem Dezembermorgen sitzt Andrej Holm in seinem neuen Staatssekretärs-Büro tief im Westen der Stadt, am Preußenpark in Wilmersdorf. Der Blick ist weit, hier oben aus dem 14. Stock kann man den Teufelsberg und den Funkturm gut erkennen. Holms Vergangenheit belastet noch immer die neue Regierungskoalition in Berlin. Die Humboldt-Universität prüft in diesen Tagen, ob der Wissenschaftler einst falsche Angaben über seine Zeit bei der Staatssicherheit der DDR gemacht hat. Das wird die entscheidende Frage sein für seine Zukunft. Schon mit 14 hatten Holms Eltern ihn zur Stasi gebracht. Jetzt ist er 46, schwer umstritten, und kämpft um seinen Posten. In der Berliner Zeitung redet er erstmals ausführlich über die Geschichte seiner Familie und die Frage, was mit ihm geschehen wäre, wenn die DDR nicht im November 1989 zusammengebrochen wäre.
Herr Holm, wo waren Sie am 9. November 1989?
Ich war zu Hause, ich habe den Mauerfall im Fernsehen gesehen. Aber mir war sofort klar, was das bedeutet und wie geschichtsträchtig das ist. Ich habe allerdings nicht den Reiz verspürt, gleich rüber in den Westen zu fahren.
Haben Sie damals noch bei Ihren Eltern gewohnt?
Ja, in einem Plattenbau in Hohenschönhausen. Wir haben in der Zeit viel ferngesehen, um die Ereignisse da draußen zu verfolgen.
Und haben Sie sich mit ihren Eltern über den Lauf der Dinge ausgetauscht?
Ja, klar. Das war doch eine Zeit, in der auch bei meinen Eltern Emotionen eine große Rolle spielten. Sie waren ja beide in der SED. Mein Vater war bei der Staatssicherheit. Und sie waren trotzdem nicht mit allem einverstanden, was in der DDR geschah. Sie haben zum Beispiel über die „Aktuelle Kamera“ geschimpft, weil sie über bestimmte Sachen nicht berichtet hat. Sie haben auch Westfernsehen geschaut, um zu wissen was in der Welt wirklich geschieht. Für eine SED-Familie war das relativ aufgeklärt. Meine Eltern haben im Herbst 1989 jedenfalls ziemlich gelitten – und sie hatten Angst vor einer Eskalation wie in China.
Wie lange haben Sie nach dem Mauerfall noch in Hohenschönhausen gelebt?
Bis zum Januar 1991. Dann bin ich ausgezogen und zum späten Hausbesetzer geworden.
Von außen mutet das merkwürdig an. Sie sind scheinbar bruchlos aus einem autoritären in ein antiautoritär-anarchisches Milieu gewechselt.
Die DDR ist mit so einfachen Begriffen wie autoritär doch nicht zu beschreiben. Ich bin schon mit 16, 17 Jahren zu Punkkonzerten gegangen. Ich war mit Freunden im Theater und habe Stücke von Volker Braun und von russischen Autoren diskutiert. Dabei haben wir beklagt, dass der Antistalinismus in der DDR noch nicht weit genug vorangeschritten war. Wir haben uns auch darüber aufgeregt, dass das der Sputnik verboten wurde. Ich bin nicht in einem autoritären Gerüst aufgewachsen, weder zu Hause noch in meiner Schulzeit, das war nicht so. Dennoch war es für mich kein Widerspruch, dass ich mich an die in der DDR vorgegebenen Berufswege gehalten habe. Eine gewisse Zwiespältigkeit zwischen privatem Alltag und offiziellem Verhalten gab es auch in einem Kaderhaushalt in der DDR, wenn man unsere Familie so bezeichnen will.
Die Autorin Ruth Hoffmann beschreibt in ihrem Buch „Stasi-Kinder“ dagegen, dass in Haushalten wie Ihrem schon kleine Abweichungen von der Norm problematisiert wurden – auch wegen der befürchteten Außenwirkung.
So war das bei uns nicht. Mein Vater war offensichtlich auch nicht besonders ehrgeizig in seinem Dienst bei der Stasi. Er war am Ende seiner Laufbahn Hauptmann. Für seine lange Dienstzeit ein eher bescheidener Aufstieg. So weit ich weiß, hat mein Vater, in seiner gesamten Dienstzeit auch nur einen einzigen Inoffiziellen Mitarbeiter angeworben. Das ist nicht viel – glaube ich zumindest.
Ihr Vater Hans Holm war ein Offizier der Staatssicherheit, der DDR-Künstler bespitzelt hat und nach der Wende das Gespräch mit manchen von ihnen suchte. Eine sehr widersprüchliche Figur. Wie standen Sie damals zu ihm? War er ein Vorbild?
Ob er ein Vorbild war, weiß ich nicht. Aber ein herzliches Verhältnis hatten wir allemal. Und wir sind zu Hause zu einem relativ freien Denken angehalten worden und haben viel diskutiert. Weder meinen Bruder noch mich hat man diszipliniert.
Aber es war doch ausgerechnet Ihr Vater, der damals dafür gesorgt hat, dass Sie sich bei der Stasi verpflichten.
In den Akten heißt das Bereitschaftserklärung.
Sind Sie dazu mit Ihrem Vater irgendwo hingegangen?
Nein, wir sind nirgendwo hingegangen, sondern wir hatten zu Hause Besuch von jemandem, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Er wurde mir als Kollege meines Vaters vorgestellt. Die konkreten Erinnerungen daran sind aber schon verblasst.
Wussten Sie, dass Ihr Vater das reale Vorbild für den Stasi-Offizier in dem Film „Das Leben der Anderen“ war?
Das habe ich jetzt erstmals in der Zeitung so gelesen. Ich wusste, dass mein Vater oft eine Sympathie für die – wie ich später erfuhr – von ihm Überwachten entwickelt hat. Das hat aber nach der Wende zu Hause eher zu Verstimmungen geführt. Denn ich habe in der ganzen Jugendzeit Literatur von ihm gereicht bekommen – Heiner Müller und Volker Braun. Das war immer verbunden mit der Aussage: „Lies das! Das ist gute Literatur!“
Und dann?
Hinterher bekam ich mit: Er hatte viele meiner Lieblingsautoren auf dem Schreibtisch, weil es mit seinen Fällen zu tun hatte. Nach der Wende habe ich mich gefragt: Wie hat er das denn ausgehalten? Richtig gestritten haben wir uns darüber nicht. Über meine Erfahrungen mit der Stasi und den Widersprüchlichkeiten in der DDR habe ich eher mit meinen Freunden diskutiert. Darunter auch einige, die die Stasi-Zentrale mit besetzt und bei der Aufarbeitung mitgemacht haben.
Haben Sie es Ihrem Vater nie vorgeworfen, dass er Sie zur Stasi gebracht hat?
Nein, so haben wir nicht darüber geredet. Aber meine Eltern geben sich bis heute die Schuld, dass ich in diese Situation geraten bin. Sie sorgen sich um ihren Sohn. Ich will sie aber da eher beruhigen.
Haben Sie mit Ihren Eltern denn jetzt über alles noch einmal geredet?
Wir reden ständig. Die sind in ziemlich heller Aufregung. Das zehrt schon an ihnen. Eltern wollen, dass es ihren Kindern gut geht.
Was haben Sie denn damals bei der Stasi eigentlich gemacht?
Ich habe Berichte über Betriebsversammlungen geschrieben und den völlig absurden Auftrag bekommen, Radio zu hören und Ereignisse zu notieren, über die damals im Radio berichtet wurde. Denn das Radio hat im Zuge von Perestroika und Glasnost über Missstände in der DDR berichtet. Deshalb gab es auch keinen Grund für mich, nachträglich in die Stasi-Akten zu gucken. Diesbezüglich war ich mit mir selbst im Reinen. Und ich wusste, was ich gemacht hatte – und was nicht.
Aber Sie haben es später bei der Humboldt-Universität anders angegeben, als Sie es heute wissen.
Ich habe es genauso angegeben, wie ich es erinnert habe. Ich habe bei der Stasi meine Bereitschaft erklärt, später dort zu arbeiten . Es war ja geplant, dass ich ein Volontariat bei der Jungen Welt mache und anschließend ein Journalistik-Studium in Leipzig beginne. Dieser Ausbildung vorgeschaltet war ein Jahr, in dem eine militärische Grundausbildung und der Dienst in einer Abteilung der Berliner Bezirksverwaltung vorgesehen war. Über mögliche Arbeitsfelder im hauptamtlichen Einsatz habe ich mir damals keine Gedanken gemacht. Was in fünf oder sechs Jahren passieren soll, ist für einen 18-Jährigen extrem weit weg.
Von außen sieht es aber so aus, als ob Sie schlicht gelogen hätten, um die Stelle zu bekommen.
Wenn ich hätte betrügen wollen, hätte ich anders agiert und den Fragebogen nicht so unsicher ausgefüllt. Unabhängig von der formalen Einstufung meiner Zeit bei der Stasi ist mir aber klar: Ich bin durch meine Unterschrift beim MfS Teil eines repressiven Apparats geworden. Und wenn die DDR nicht zusammengebrochen wäre, wäre ich mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit in die Situation gekommen, anderen zu schaden. Insofern kann ich – auch ohne eine persönliche Schuld – gut verstehen, dass diejenigen, die unter der DDR gelitten haben, das alles mit Empörung wahrnehmen.
Nun prüft ja die Humboldt-Universität das alles noch mal. Welche Bedeutung hat das für Sie? Hängt davon Ihre Zukunft ab?
Ich bin nicht derjenige, der über meine politische Zukunft entscheidet. Ich habe den Fragebogen damals nach bestem Wissen und Gewissen ausgefüllt. Dabei bleibt es.
Das heißt, Sie treten nicht zurück.
Meine Aufgabe als Staatssekretär ist es, Wohnungspolitik zu machen. Dafür gibt es auch jede Menge Rückenwind. Und wir haben auch schon mit der Arbeit begonnen.
Haben Sie damit gerechnet, dass Sie das alles wieder einholt, wenn Sie Staatssekretär werden?
Ja, denn das ist in vielerlei Hinsicht ein gravierender Rollenwechsel, den ich vollziehe und über den ich mir Gedanken machen musste – vom Wissenschaftler, der Dinge beschreibt und analysiert, zu dem, der dann wirklich etwas ändern soll. In diesen Überlegungen kam natürlich auch vor, dass meine Biografie noch mal aufgegriffen wird. Das Hauptargument für die Entscheidung, dass ich als Staatssekretär arbeiten soll, war, dass ich daraus nie ein Geheimnis gemacht habe. Ich habe, als ich nach 1990 eine öffentliche Person wurde, auch sofort darüber gesprochen. Alles, was ich getan habe, war bekannt. Das hat den Ausschlag für die Linke gegeben, zu sagen: Wir machen das mit Andrej Holm.
Gab es trotz allem nie den Moment, an dem Sie daran gedacht haben hinzuschmeißen?
Wenn ich vorher gewusst hätte, wie diese Auseinandersetzung geführt wird, hätte ich mir das vielleicht noch mal überlegt. Ich tue mir den Stress nicht an, damit meine Kinder jeden Tag mein Foto auf Seite eins der Berliner Zeitungen sehen. Andererseits hatte ich auch nicht damit gerechnet, dass die ganze Stadt begrüßt, dass ich Staatssekretär für Wohnen werden würde. Dass die Opposition meinen Rücktritt fordert, ist klar. Das ist Teil des politischen Spiels. Von der Koalition bekomme ich den Rückhalt, den ich brauche – wenn auch nicht von jedem Einzelnen.
Haben Sie mal darüber nachgedacht, was gewesen wäre, wenn Sie im Westen groß geworden wären?
Ehrlich gesagt nicht. Abgesehen davon habe ich jetzt weit mehr als die Hälfte meines Lebens im Westen verbracht. Insofern kann ich Ja sagen, was dieses Land aus mir gemacht hat – einen Wissenschaftler und einen Staatssekretär, der umstritten ist und vorher, im Jahr 2007, einen Terrorverdächtigen, der festgenommen und später vom Gericht dieses Landes wieder von diesem Verdacht befreit wurde.
Der Westen gibt einem viele Möglichkeiten.
Die Demokratie gibt einem alle Möglichkeiten. Dafür bin ich auch sehr dankbar – dass in einer freien Gesellschaft Rechtsstaatlichkeit herrscht und selbst in so einer Debatte wie jetzt die Koalition die Luft anhält und das Gutachten abwartet, statt ein von der Presse getriebenes Urteil zu fällen.
Haben Sie manchmal das Gefühl, da beugen sich Westdeutsche über meine Vergangenheit, die keine Ahnung haben?
Ich weiß nicht, ob das immer Westdeutsche sind. Was mich ärgert, ist, dass manchmal das Differenzierungsvermögen fehlt und nicht gefragt wird: Was ist denn wirklich passiert?
Sie waren auf der Täterseite zu Hause. Fühlen Sie sich heute dennoch auch als Opfer der DDR-Verhältnisse?
Nein, ich fühle mich weder als Täter noch als Opfer.
Und Sie hat nie der Zorn gepackt, weil Sie in Verhältnisse hineingeworfen wurden, die Sie 27 Jahre später mit dem Rücken an der Wand stehen lassen, obwohl Sie mit 14 von der Welt wenig wussten?
Nein, überhaupt nicht. Ich habe ja die unglaublich spannende Zeit der Wende erleben dürfen. Und ich sehe es als Glück an, dass ich zu jung war, um jemandem zu schaden.
Das Gespräch führten Jochen Arntz und Markus Decker.