Armut in Berlin: „Menschen rechnen inzwischen aus, was Wäschewaschen kostet“

In der City-Station der Stadtmission kann man günstig essen, kostenlos duschen und waschen. Nun spüren die Helfer den wachsenden Andrang von Berlinern, deren Geld nicht mehr reicht.

Diakon Anatol Schmidt gibt Essen in der City-Station der Stadtmission aus. In der Einrichtung gilt noch Maskenpflicht.
Diakon Anatol Schmidt gibt Essen in der City-Station der Stadtmission aus. In der Einrichtung gilt noch Maskenpflicht.Stephan Pramme für die Berliner Zeitung am Wochenende

An den Waschmaschinen kann Anna-Sofie Gerth am besten erklären, was sich gerade ändert in dieser Stadt. Es sind drei Stück, sie stehen im Keller der City-Station der Berliner Stadtmission, die Gerth seit vier Jahren leitet. Über den Waschmaschinen stehen drei Trockner. Gerth steht vor der Wand aus weißen Geräten. Eine Waschmaschinentrommel dreht sich bereits, die Wäsche der Hilfseinrichtung wird gewaschen, bevor gleich oben der Laden öffnet.

Die anderen Maschinen sind frei und können vergeben werden. An unsere Gäste, sagt Gerth. So nennen sie die Menschen, die zu ihnen kommen. Obdachlose können ihre Kleidung in der City-Station waschen und trocknen. Aber auch Menschen, die eine Wohnung haben, können die Maschinen nutzen. Und von diesen Menschen kommen immer mehr, sagt Gerth, die meisten von ihnen seien „von Altersarmut betroffen“.

Die neuen Gäste haben oft sogar eine eigene Waschmaschine, aber die ist entweder kaputt, und sie können sich die Reparatur nicht leisten. Aber es gebe noch einen anderen Grund, der berühre sie sehr, sagt Gerth: „Menschen rechnen sich inzwischen aus, was Wäschewaschen kostet.“

Diakonin Anna-Sofie Gerth hält an jedem Freitag eine kurze Andacht in der Station.
Diakonin Anna-Sofie Gerth hält an jedem Freitag eine kurze Andacht in der Station.Stephan Pramme für die Berliner Zeitung am Wochenende

Es sind Beträge um 50 Cent, je nach Strompreis und Gerätemodell. Für manche Berliner sind das keine kleinen Beträge mehr. Nicht in einer Zeit, in der alles teurer und teurer wird, das Brot, der Strom, die Wärme, vielleicht auch schon wieder die Miete. Ein Ende der Inflation ist nicht in Sicht. 

Berliner Stadtmission: deutlicher Anstieg der Hilfsbedürftige im November

Der November sei besonders krass gewesen, da kamen ein Viertel mehr Hilfsbedürftige als im Monat zuvor. Einen solchen Anstieg habe sie überhaupt noch nie erlebt, sagt Anna-Sofie Gerth.

Sie wirft einen Blick in ein Regal neben den Waschmaschinen, ein Stapel Handtücher liegt bereit, frische T-Shirts, Unterhosen und Socken, nach Größen sortiert. Sie prüft die beiden Duschkabinen, alles sauber. 24 Menschen können pro Tag in der City-Station duschen. Jeder bekommt nach der Dusche ein Set frische Unterwäsche, dazu gehört auch ein T-Shirt. Sie und ihre Kollegen könnten keine Duschen mehr anbieten, wenn das Regal im Keller leer sei, sagt Gerth. 50 T-Shirts reichen für gut zwei Tage.“ Wer Männer-Shirts zu vergeben habe, solle sich melden.

Michael Franke kommt aus Hönow in die City-Station am Kudamm.
Michael Franke kommt aus Hönow in die City-Station am Kudamm.Stephan Pramme für die Berliner Zeitung am Wochenende

Es ist ein kalter, sonniger Tag im Januar. Aus der Küche dringt ein kräftiger Duft, es gibt Geflügeleintopf. Die Köchin hat noch eine gespendete Weihnachtsgans verarbeitet. Der Laden öffnet um zwei. Er liegt in einer Seitenstraße am Ende des Kudamms, City West. Die Dichte der Luxusgeschäfte nimmt hier etwas ab. Trotzdem passt er nicht in die Gegend.

„Als Erste kommen die Leute, die richtig Hunger haben“

Als Erste, sagt Gerth, kommen die Leute, die richtig Hunger haben. Zwei Männer zählen am Tresen, an dem das Essen ausgegeben wird, Münzen ab. Eine warme Mahlzeit kostet 50 Cent. Tee, Wasser und Kuchen gibt es umsonst. Einer der Männer antwortet auf Gerths Frage, was er trinken wolle, mit „Bier“. Sie lacht, Mensch, den Witz habe sie ja noch nie gehört.

Zur Suppe gibt es Brot, die Kuchenstücke sind vom Bäcker in der Straße, bei dem sie abends die nicht verkaufte Ware abholen. 70 Prozent der Lebensmittel, die sie ausgeben, stammen aus Spenden. Ein Feinkostgeschäft und ein Schul-Caterer bringen Reste. Köchin Ike Lemke-Merten improvisiert daraus ein Gericht pro Tag.

Helene Bode ist 87 und seit 16 Jahren Ehrenamtliche in der City-Station.
Helene Bode ist 87 und seit 16 Jahren Ehrenamtliche in der City-Station.Stephan Pramme für die Berliner Zeitung am Wochenende

Wie es Berlin gerade geht, merken sie hier auch an dem, was abgegeben wird. Im Januar essen die Gäste der Stadtmission mehr Kuchen, weil viele Berliner sich Süßes verkneifen. Im Sommer sind die Spenden knapp, die Urlaubszeit. Und derzeit sparen Berliner offenbar am Lachs. Die Station bekam gerade eine Ladung, die für Nudeln mit Lachs für 90 Menschen reichen wird.

Anna-Sofie Gerth hat in Notübernachtungen und der Bahnhofsmission am Zoo gearbeitet, bevor sie in die City-Station kam, sie kennt die Armut in dieser Stadt. Die gegenwärtige Lage erschüttere sie trotzdem, sagt sie. 

Alle Gäste seien angespannter. Die ohne Wohnung, die mit Wohnung. Sie und ihre Kollegen spürten den „Krisendruck“.  Anfang Januar hat sie Zahlen dazu getwittert. Im Jahr 2022 zählte die City-Station 13.948 Gäste. 16.508-mal wurden Essen oder Kaffee, der ebenfalls 50 Cent kostet, verkauft. 2570-mal wurden die Duschen benutzt, „es würden mehr Leute duschen, wenn wir mehr hätten“, schrieb sie.

Ein Gast spielt Klavier, andere haben sich zum Kartenspielen zurückgezogen.
Ein Gast spielt Klavier, andere haben sich zum Kartenspielen zurückgezogen.Stephan Pramme für die Berliner Zeitung am Wochenende

Sie hatten 800 Gäste mehr empfangen und etwa 1000 Mahlzeiten mehr ausgegeben als 2021. „Was für ein Jahr“, schrieb die Sozialarbeiterin auf Twitter.

Auf einer Plattform am Fenster sitzt Michael Franke, ein Stammgast, der einen weiten Weg zurücklegt, um hier den Nachmittag zu verbringen. Er kommt aus Hönow. Aber bei der Stadtmission in Lichtenberg dürfe er nicht mit dem Hund rein. Er zeigt eine Bescheinigung, der Hund, der neben dem Tisch döst, ist sein Begleithund. Franke leidet an Depressionen.

Er habe eine Wohnung, arbeite in einer Zuverdienstwerkstatt. Einmal in der Woche helfe er selbst, Essen an Obdachlose auszugeben, „das tut mir so gut, das Lachen der Leute“, sagt Franke. Doch auch bei ihm sei das Geld knapp, gerade jetzt, auch seine Waschmaschine war kaputt. Sein Hund braucht fettarmes Futter, das kostet.

Franke ist 62. Er erzählt aus seinem Leben, von der Oma in Charlottenburg, einer Tischlerlehre „in Westdeutschland“, von der Rückkehr, dem Umzug in den Osten Berlins wegen der günstigeren Mieten, und von gescheiterten Beziehungen. Er bedauert, dass es in der City-Station am Sonntag keinen Gottesdienst mehr gibt. Die Stadtmission ist eine kirchliche Einrichtung, aber die City-Station hat Sonntag und Montag zu. 

Vorratsschrank mit gespendeten Süßigkeiten nach Weihnachten: „Das muss bis Ostern reichen.“
Vorratsschrank mit gespendeten Süßigkeiten nach Weihnachten: „Das muss bis Ostern reichen.“Stephan Pramme für die Berliner Zeitung am Wochenende

Ein älterer Mann kommt in Anzug und Hemd, wartet bei einem Tee auf eine Frau, auch sie schön zurechtgemacht. Ein junger Mann, der nur Englisch und Spanisch spricht, isst einen großen Teller Eintopf. Man sehe nicht sofort, wer Hilfe brauche. „Aber niemand kommt ohne Grund“, sagt Anna-Sofie Gerth. Sie hat in letzter Zeit Fahrer von Lieferdiensten beraten, die sehr wenig verdienen, und verarmte Witwen aus Charlottenburg.

Eine Frau holt Eintopf zum Mitnehmen, sie trägt einen Pelz oder Kunstpelz. Der Sozialarbeiter Anatol Schmidt berät einen Mann, der sich nach Notübernachtungen erkundigt hat. In einem Schrank kann man Handys aufladen. Der Praktikant Jan-Ole Gravert hat im Kopf, in welcher Reihenfolge sich Gäste zum Duschen angemeldet haben. Ohne Praktikanten und Freiwillige bräche der Laden zusammen.

Am Tresen steht eine kleine Frau in einer Schürze. Die Schürze sei älter als sie selbst, sagt sie. Helene Bode ist 87 und arbeitet seit 16 Jahren als Ehrenamtliche in der City-Station. Einmal in der Woche gibt sie Essen aus, einmal im Monat bietet sie einen Literaturkreis an. 

Helene Bode führte das Leben aus einer Hinterhofladenwohnung im Prenzlauer Berg, in der sie als Tochter eines Mechanikers aufwuchs, in ein Haus am Wannsee. „Aber eine feine Dame bin ich nicht geworden“, sagt sie. Sie hat als Rechtsanwältin gearbeitet, ihr Mann war Beamter. Kurz nachdem ihr Ruhestand begann, starb er. Bode fing bei der Stadtmission an. Es half gegen die Schwermut, die sie befiel.

Ein Gast betrachtet einen Aushang mit Fotos von Festen und Ausflügen der City-Station.
Ein Gast betrachtet einen Aushang mit Fotos von Festen und Ausflügen der City-Station.Stephan Pramme für die Berliner Zeitung am Wochenende

Heiligabend habe sie 90 Bons ausgegeben, für 90 Essen, erzählt sie. Die Köchin hatte das ganze Jahr jede einzelne gespendete Roulade eingefroren, bis 90 zusammen waren. Hat sich die Armut in Berlin verändert? „Sie ist sicher nicht kleiner geworden“, sagt Helene Bode, bevor sie das nächste Tablett bestückt: Suppe, Brot, Tee.

Um viertel sechs ertönt ein Gong. Anna-Sofie Gerth, die auch Diakonin ist, hält die wöchentliche Andacht. Sie spricht über Gott, „der dich sieht“, zehn Minuten lang sind alle anderen still.

Wer nicht auf der Straße lebt, ist schwer zu erreichen

Hinterher sagt sie, dass derzeit alle im Team der Andrang der Menschen bewege, die nicht auf der Straße leben. Obdachlosen könne man Hilfsangebote machen, mit einem Hinweis vielleicht etwas bewirken. Bei den neuen Armen fühlen ihre Kollegen und sie sich oft aufgeschmissen.

„Die Menschen sagen: Ich hatte nie viel Geld, ich weiß, wie man mit wenig lebt.“ Sie kennen Kilopreise von Lebensmitteln, Stromtarife, die Heiztipps, die Politiker jetzt gern geben. Sie haben oft schon jede Hilfe beantragt, die für sie infrage kommt. Aber es reicht trotzdem nicht mehr. Weil das günstige Speiseöl nicht mehr da ist, wenn andere Berliner Öl horten. Weil die Wucht der Preissteigerungen Menschen aus der Bahn wirft, die sich lange halten konnten.

Diakonin Anna-Sofie Gerth leitet die City-Station seit vier Jahren. Der gegenwärtige Andrang besorgt sie.
Diakonin Anna-Sofie Gerth leitet die City-Station seit vier Jahren. Der gegenwärtige Andrang besorgt sie.Stephan Pramme für die Berliner Zeitung am Wochenende

Die neuen Gäste kommen oft erst auf einen Tee, sagt Gerth. Sehen sich um, ist alles sauber? Dann fragen sie, ob sie ihren Rentenbescheid kopieren könnten. Wenn sie ihre Wäsche hier waschen, nehmen sie sie oft feucht mit nach Hause, um sie dort aufzuhängen. So wie immer.

Kurz nach sechs dreht Gerth wieder eine Runde durch die Räume. Sie weckt einen Mann, der an einem Tisch schläft, „ein Kompliment für uns“, sagt sie. Auf der Straße können sich viele Menschen nie entspannen. Der Mann, der Englisch und Spanisch spricht, sitzt am Klavier im hinteren Raum und spielt. Der Mann im Anzug und seine Begleitung sind in ein Kartenspiel vertieft.

Anatol Schmidt zählt: 73 Gäste waren da, der zweitvollste Tag im Jahr. Ein Krankenwagen kam, ein epileptischer Anfall, drei Personen erhielten einen Tag Hausverbot. Sie hatten Alkohol getrunken. Niemand hat gebrüllt oder sich geschlagen, auch das kommt vor. Eine Frau huscht noch herein, um eine Tüte mit Einkäufen abzugeben. Zahnbürsten, Duschgel, Kekse. Beim Bäcker sind Schrippen und Torte übriggeblieben. 

„Die Berliner haben ihre Obdachlosen im Blick“, sagt Anna-Sofie Gerth, bevor sie die Tür abschließt. Nun sei die Frage, ob sie auch die Altersarmen in den Blick nehmen können, die psychisch Kranken. Und was passiert, wenn der Druck weiter steigt.


Die City-Station der Stadtmission befindet sich in der Joachim-Friedrich-Str. 46, 10711 Berlin. Geöffnet ist von Dienstag bis Sonnabend von 14 Uhr bis 18.30 Uhr. Sachspenden können zu den Öffnungszeiten abgegeben werden.

Gebraucht werden besonders: T-Shirts für Männer, Unterhosen für Männer, Socken. Jeweils in allen Größen und bevorzugt in dunklen Farben, neu oder gut erhalten und gewaschen. Außerdem Handtücher, Kosmetikartikel, im Winter auch Mützen, Schals, jederzeit Schlafsäcke.


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