Erika Ebert legt die weiße Porzellanschale mit den roten Rosenblüten auf den Tisch, direkt neben ein Fondueset. Dann kramt sie noch eine Glasvase aus dem Beutel, den sie mitgebracht hat. Sie zupft ihre beige Steppjacke zurecht und begutachtet die Regale. Sie ist Stammkundin im Tauschladen Haltbar. Oder besser: Stammspenderin.
Erika Ebert ist 84, ihren Rollator hat sie vor der Tür geparkt. Sie lebt seit mehr als 50 Jahren im Charlottenburger Kiez. „Je älter ich werde, desto mehr trenne ich mich von Hausrat“, sagt sie. „Es sind Erinnerungen dabei, Dinge, die mein inzwischen verstorbener Mann und ich uns gerne gekauft haben.“ Nun sei es an der Zeit, sich davon zu verabschieden. „Ehe meine Angehörigen die Sachen nach meinem Tod wegschmeißen und alles auf der Kippe landet, bringe ich es lieber hier hin.“
Es ist ein Vormittag in dem Tauschladen an der Pestalozzistraße 100. Angela Schoubye, Angestellte der Berliner Tafel, hat Erika Ebert die Tür geöffnet. Die Rentnerin schaut öfter vorbei, manchmal will sie nur reden, manchmal bringt sie etwas mit. Die weiße Schale und die Glasvase legt Schoubye, 51 Jahre alt, halblange rötliche Haare, vorübergehend auf den Verkaufstresen zwischen den Schmuck und die Brillen, später wird sie alles einsortieren. Sie ist seit zehn Jahren bei der Berliner Tafel, vorher arbeitete sie im öffentlichen Dienst.
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Sie zeigt auf eine Lebensmittelkiste, die ist gefüllt an diesem Tag. Neben haltbaren Konserven, Nudeln und Reis sind auch Süßigkeiten dabei. „Manche bringen einfach nur eine Tafel Schokolade vorbei, weil sie helfen wollen. Jede Spende ist willkommen“, sagt Schoubye.
Lebensmittel tauschen gegen Trödel – das ist das Konzept dieses Geschäfts, das im Oktober 2020 öffnete, mitten in der Corona-Zeit; der Laden musste im Lockdown zwischenzeitlich wieder schließen. Und läuft jetzt gut.
‚Ware gegen Ware, die Idee kommt an. Mehr als 5000 Kilo Konserven, Nudeln oder eingelegtes Gemüse sind seit dem Start vorbeigebracht worden. Im Gegenzug können die Kunden Trödel mitnehmen, um dessen Preis kann gefeilscht werden. Andere Besucher spenden Geld oder bringen ihren Hausrat vorbei, ohne etwas mitzunehmen. Die Lebensmittel, die sich im Laden anhäufen, werden immer mittwochs abgeholt und an die Ausgabestellen der Tafel verteilt.‘
Dinge miteinander zu teilen, ist ökologisch sinnvoll und daher ein Trend, der seit Jahren zunimmt. Statt auf Fast Fashion setzen viele auf Secondhand. Das ist nachhaltig, weil so verhindert wird, dass man wegwirft, was eigentlich noch benutzt werden kann. Die Müllberge wachsen langsamer. Und wer tauscht, spart Bares. Laut einer Studie lagern in jedem Haushalt ungenutzte Dinge im Wert von 1000 Euro.

„Getauscht haben Menschen schon immer“, sagt Angela Schoubye, die Tafel-Mitarbeiterin. Kunden haben ihr von Börsen in den Hausfluren erzählt, bei denen sich jeder mitnehmen kann, was er braucht. Von Kleider-Flohmärkten in Wohnzimmern. Es gibt auch Menschen, die ihren überflüssigen Hausrat einfach auf die Straße stellen, um diesen zu verschenken. Alte Kleidung, ausrangierte Kaffeetassen, ungeliebte CDs stehen immer häufiger in Kisten am Straßenrand. Jedes Jahr entsorgen die Ordnungsämter 30.000 Kubikmeter dieser Abfälle. Wird jemand beim Abstellen erwischt, muss er eine Strafe zahlen.
Berliner Tauschladen: Menschen trennen sich von Trödel
Der Tauschladen ist eine gute Alternative. „Berlinerinnen und Berliner bringen gerne ihre Dinge zu uns“, sagt Angela Schoubye, die gerade ihr Schaufenster neu dekoriert hat. „Wir haben derzeit Puzzlewoche, vor Weihnachten suchen Menschen nach Geschenken, bei uns bekommen sie sie.“
Erika Ebert ergänzt: „Es geht ja auch darum, etwas Gutes zu tun.“ Jüngst hat sie sich schon von anderen Teilen ihrer Vasen-Sammlung getrennt und diese in den Laden gebracht. In der Ecke des Ladens steht noch die Vase, die sie zum 25. Hochzeitstag bekommen hat. „Ich habe mich schweren Herzens davon getrennt.“
Angela Schoubye hört viele solcher Geschichten. „Ein Mann hat uns kürzlich seine Saucieren-Sammlung gespendet. Es viel ihm nicht leicht, aber er meinte, nun sei die Zeit dafür gekommen“, sagt sie und geht zu den Regalen. Dort stehen die Saucieren neben Kaffeeservicen, Kannen und Kerzenständern.
Es gibt außerdem Zigarettenetuis, Likörgläser, Zinkbecher sowie eine Bücher-, DVD- und Spieleecke. Beim Stöbern stößt man auf Laptoptaschen, eine Schreib- und eine Nähmaschine sowie Küchenwaagen. Oder auf eine elektrische Kaffeemühle, Thermoskannen und einen Bratapfelbräter. In einem Regal sitzen Teddybären, Puppen und Barbies neben Holzspielzeug. In einer anderen Vitrine liegen Broschen, Ketten und Armbänder.

Doch auch in dem kleinen Laden in Charlottenburg macht sich die Krise bemerkbar. Das Leben in Deutschland ist in den vergangenen Monaten seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine immer teurer geworden, viele wissen nicht mehr, wie sie das alltägliche Leben meistern sollen, haben Angst, in die Armut abzurutschen. Die aktuelle Inflation verschärft die Lage. Sie liegt bei 10 Prozent, so hoch wie lange nicht mehr. Auch die Gas- und Strompreise steigen. Trotz der Entlastungspakete der Regierung müssen viele sparen. Hinzu kommen hohe Mieten, teurer Sprit und Lebensmittel.
Wir spüren die Sorgen sehr deutlich. Für viele ist die Situation sehr ernst.
Laut den Wohlfahrtsverbänden hatte die Armutsquote in Deutschland 2021 – also schon vor Kriegsbeginn – einen traurigen neuen Höchststand erreicht. 13,8 Millionen Menschen müssen hierzulande inzwischen zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor Pandemiebeginn. Die Inflation verschlimmert die Lage vieler. Und immer mehr Menschen nutzen das Angebot der Tafeln.
„Wir spüren die Sorgen deutlich. Für viele ist die Situation sehr ernst“, sagt Angela Schoubye. Ein älteres Ehepaar, das Jahrzehnte im Kiez gewohnt hatte, sei aus Sorge vor den explodierenden Preisen nach Tegel gezogen, berichtet sie. „Dort haben sie sich eine kleine Wohnung gemietet.“ Die Dinge, die das Paar nicht mit in die neue Bleibe nehmen konnte, gab es in den Tauschladen.

Die Tafel schlägt seit Wochen Alarm: Lebensmittel knapp werden
Auch ukrainische Flüchtlinge kommen inzwischen häufig vorbei, bitten um Lebensmittel. „Die muss ich leider vertrösten. Wir geben keine Lebensmittel raus, in dem Fall verweisen wir sie an die Ausgabestellen“, sagt Angela Schoubye. Das hat sie auf Ukrainisch niedergeschrieben und den Zettel auf den Tisch geheftet.
Sie sieht den Laden als warmen Ort in kalten Zeiten. Als eine Begegnungsstätte, um sich gegenseitig zu helfen. „Ich sage meinen Kunden und Kundinnen oft, dass wir das irgendwie alles packen werden, dass nicht alles negativ ist.“ Es helfe wenig, den Kopf in den Sand zu stecken.
Sorgen macht sie sich allerdings darum, dass die Lebensmittel immer knapper werden. Die Tafel schlägt seit Monaten Alarm, macht darauf aufmerksam, dass weniger Essen gespendet wird. Gleichzeitig kommen immer mehr Bedürftige zu den 47 ständigen sowie acht vorübergehenden „Laib und Seele“-Ausgabenstellen in Berlin. Vor dem Krieg in der Ukraine und der steigenden Inflation waren es monatlich etwa 40.000 Menschen, inzwischen sind es mehr als 70.000. Im August waren es sogar 80.000, im September 74.000. Neben den Ausgabestellen unterstützt die Berliner Tafel außerdem 400 soziale Einrichtungen wie Wohnheime, Obdachlosenunterkünfte, Frauenhäuser, Kinder- und Jugendeinrichtungen, Drogenberatungsstellen oder die Bahnhofsmission und erreicht darüber mehr als 92.000 Bedürftige. Auch in den sozialen Einrichtungen ist die Nachfrage gestiegen.
„Seit Jahresbeginn verzeichnen wir einen Anstieg der Kundinnen und Kunden von 50 Prozent“, sagte jüngst der Vorsitzende des Dachverbands Tafel Deutschland, Jochen Brühl, der Rheinischen Post. Insgesamt kämen bundesweit etwa zwei Millionen Menschen.
Gleichzeitig seien die Lebensmittelspenden zurückgegangen. „Rund ein Drittel der Tafeln sind so überlastet, dass sie Aufnahmestopps verhängen mussten“, sagte Brühl. Hilfesuchende Menschen wegzuschicken, sei für Helfer und Helferinnen psychisch enorm belastend. Auch geben die Tafeln bundesweit mittlerweile kleinere Mengen an Lebensmitteln an den Ausgabestellen ab, um möglichst viele Menschen versorgen zu können.
Angela Schoubye setzt sich an ihren Schreibtisch in der Ecke des Ladens, kramt einen Zettel hervor. „Früher waren etwa zwei Drittel der Spenden Obst und Gemüse, inzwischen sind es nur 30 bis 40 Prozent.“ Häufiger gespendet werden Non-Food-Waren wie beispielsweise Hygieneartikel.
Nach wie vor würden etwa 660 Tonnen Lebensmittel monatlich verteilt, viele davon stammen aus etwa 1000 Supermärkten in der Stadt. Doch auch von dort kommen weniger Spenden. Der Handel reagiert selbst auf die Krise, bietet Kunden und Kundinnen immer öfter „Retter-Tüten“ mit Obst, Gemüse oder Brot vom Vortag an.
Hinzu kommen kommerzielle Lebensmittelretter. Unternehmen wie beispielsweise Sirplus erstehen unter anderem Restposten, die abgelaufen oder mit Mängeln behaftet sind, und verkaufen sie im Internet an ein urbanes Publikum weiter. Dann gibt es unter anderem noch die App Too Good To Go (TGTG). Mithilfe dieser App kann sich jeder mit ein paar Klicks ein „Magic Bag“ bei einem Bäcker, Restaurant oder an der Tankstelle in der Umgebung sichern. Der Inhalt wird nicht vorab verraten; es ist eine Wundertüte voller Nahrungsmittel, die die Läden sonst wegwerfen würden.
Auch das zieht, Lebensmittel-Schnäppchen sind begehrt. 2020 hat TGTG nach eigenen Angaben 29 Millionen Mahlzeiten vor der Tonne bewahrt. Etwa 31 Millionen Menschen nutzen die App in 15 Ländern. „Das ist auch gut so, weil weniger Waren weggeschmissen werden“, sagt Angela Schoubye.
Für die Tafel bedeute das allerdings, neue Wege suchen zu müssen. Beispielsweise Waren direkt bei den Erzeugern zu beziehen. „Wir mussten schon immer erfinderisch sein“, sagt Angela Schoubye. In Berlin gibt es den gemeinnützigen Verein, der sich über Spenden und Mitgliedsbeiträge finanziert, seit 1993. Die Hauptstadt war der erste Standort der Tafel. Damals schon sammelten ehrenamtliche Mitarbeiter unverkaufte, aber frische Lebensmittel ein und verteilten sie an bedürftige Menschen. In den ersten Jahren belieferten sie allerdings ausschließlich soziale Einrichtungen; 2005 kamen die Ausgabestellen hinzu.

Angela Schoubye steht auf, sie verschwindet in der kleinen Küche in dem Laden, um Wasser zu kochen. Sie bietet dann Fencheltee an, dazu reicht sie selbst gebackene Kekse, die eine Nachbarin vorbeigebracht hat. Ihre Stammkundin Erika Ebert verabschiedet sich.
Wir müssen gemeinsam durch die Krise gehen und dürfen die sozial Schwachen nicht vergessen.
„Wir müssen gemeinsam durch die Krise gehen und dürfen die sozial Schwachen nicht vergessen“, sagt Angela Schoubye. Dinge für eine gute Sache zu spenden, stärke die Solidarität untereinander. „Es ist heilsam.“
Alle zwei Monate fahre eine Familie vor dem Laden vor, erzählt sie. „Das Auto ist jedes Mal vollbepackt mit Kisten von Konserven. Sie geben dafür mindestens 250 Euro aus, weil sie helfen wollen.“ Dann seien da noch die vielen Restaurantbesitzer, die übrig gebliebene, haltbare Lebensmittel spendeten. Auch Kirchengemeinden sammelten Spenden und brächten diese vorbei. In Naturalien oder in bar. Angela Schoubye ist jedes Mal froh, wenn im Gegenzug etwas Trödel mitgenommen wird. „Das ist ein Kreislauf, der allen zugutekommt“, sagt sie.
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