Bernardine Evaristo liest in Berlin vor mehr jungen Leuten als je zuvor

Bernardine Evaristo stellt nicht nur ihr neuestes Werk „Manifesto“ auf dem ilb vor, sondern liest auch vor Berliner Schülern aus „Mädchen, Frauen etc.“

Bernardine Evaristo ist einer der Stargäste des internationalen Literaturfestivals.
Bernardine Evaristo ist einer der Stargäste des internationalen Literaturfestivals.imago/Matt Crossick

Jeder Sitz im Haus der Berliner Festspiele ist besetzt. Die angeregten Gespräche links und rechts, vor und hinter einem bilden eine Geräuschkulisse, die an einen Schulhof oder an eine Aula erinnert. Die rund 1000 Schülerinnen und Schüler der Klassen 10 bis 12 sind hier, um Bernardine Evaristo zuzuhören und mit ihr zu sprechen. Das Internationale Literaturfestival Berlin (ilb) läuft seit dem 7. September und bietet auch für Kinder und Jugendliche viel.

Bernardine Evaristo setzt sich schon lange für die Rechte von schwarzen Frauen ein. Sie gründete in London das erste Theater, das nur von schwarzen Frauen betrieben wird. 2019 gelang der heute 63-Jährigen mit ihrem achten Roman der große Durchbruch als Schriftstellerin. „Girl, Woman, Other“, auf Deutsch „Mädchen, Frau etc.“, erhielt den in der Literaturwelt renommierten Booker Prize, neben Margaret Atwoods „The Testaments“. Evaristo ist die erste schwarze Schriftstellerin, die mit diesem Preis ausgezeichnet wurde. Der Roman zählt außerdem zu den Lieblingsbüchern von Barack Obama und Roxane Gay, einer einflussreichen Feministin.

Ein Roman über Einzelschicksale befeuert die großen Diskussionen

Der Roman erzählt die Geschichten, Kämpfe und Träume von elf schwarzen Frauen und einer non-binären Person in Großbritannien. Die Protagonistinnen sind unterschiedlichen Alters, Herkunft und Sexualität, doch beim Lesen hat man das Gefühl, man schlüpft in ihre Haut. Das Buch spricht über Diskriminierungen und Privilegien, es zeigt, wie stark die feministischen Einstellungen der Frauen ausgeprägt sind – oder wie schwach.

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Die individuellen Lebensgeschichten thematisieren grundlegende Debatten wie Rassismus, Gender und Identität. Auffällig ist der besondere Schreibstil, der aus einer Mischung aus Prosa und poetischen Elementen einen fließenden Text geschaffen hat, der dennoch versartig geschrieben ist, zum Beispiel fehlt häufig die Interpunktion.

Wer dachte, Berliner Schüler seien schwer für Literatur zu begeistern, irrt. Schon die Moderatorin Eliza Apperly sowie die Autorin des Vorprogramms Berfin Sönmez werden mit eifrigem Applaus begrüßt. Als Evaristo die Bühne betritt, ertönen sogar Pfiffe und Jubelrufe. Evaristo schenkt allen ein warmes Lächeln und beginnt mit der Moderatorin zu sprechen. Alles auf Englisch, doch für die Oberstufe kein Problem. Nach einem Gespräch über ihren biografischen Werdegang beginnt Evaristo zu lesen.

Bernardine Evaristo hört zu und macht Mut

In der ausgewählten Stelle spricht Yazz. Die 19-Jährige sitzt in einer Theaterinszenierung ihrer Mutter Amma. Yazz hat bereits ihre eigene Vorstellung vom Leben und kann viele Ansichten und Entscheidungen der Mutter nicht nachvollziehen. Inmitten des Publikums, dessen Durchschnittsalter „um die 100“ sein muss, denkt sie darüber nach, wie die ältere Generation den Jüngeren alles verbaut. Dem anschließenden Applaus nach zu urteilen, scheint Yazz vielen Schülerinnen und Schülern aus der Seele zu sprechen.

„Ich umgebe mich viel mit Jüngeren, sonst könnte ich gar nicht aus der Perspektive von Yazz schreiben. Ich liebe den Kontakt zu jungen Menschen“, sagt Evaristo. Nach der Lesung können die Schüler Evaristo Fragen stellen. Eine Person in der ersten Reihe bedankt sich bei der Schriftstellerin dafür, dass Sie über eine non-binäre Person schreibe. In der Literatur kämen sie sonst kaum vor. Evaristo sagt, es sei eine bewusste Entscheidung ihrerseits gewesen. „Ich möchte unsere Kultur abbilden und non-binäre Menschen müssen mit einbezogen werden.“

Sie gibt auch Tipps zum Schreiben, ermutigt jene, die Schriftsteller werden wollen, an ihr eigenes Können zu glauben. „Es fängt bei der Sprache an. Wenn du sagst ‚Ich kann das nicht‘ oder ‚Da gibt es ein Problem‘, legt man sich Steine in den Weg.“ Man solle Probleme lieber Herausforderung nennen. „Challenge impliziert, dass man es schaffen kann.“

Sie betont, wie wichtig Konversation zwischen verschiedenen Generationen sei. Der Generation, die noch ganz am Anfang steht und oft von Druck und Zukunftsängsten geplagt ist, erklärt sie, wie sich alles im Leben noch mal ändern könne. So sei sie selbst erst spät zum Schreiben gekommen, in ihrer Jugend wollte sie immer nur Schauspielerin werden. „Es ist okay, wenn Leute euch belächeln, nur weil ihr nicht den traditionellen Weg geht.“

Evaristo lobt das Interesse des Publikums

Als angehende Schriftstellerin hätte sie ihre Kreativität betrunken in der Nacht ausleben wollen. Sie habe oft abends geschrieben – Kette rauchend. „Das ist kein Rat“, sagt sie lachend, „hätte ich so weitergemacht, wäre ich jetzt tot. Tot geraucht. Aber damals dachte man, so entstehe Kunst.“ In Wahrheit sei der Schlüssel zum Erfolg Disziplin und Konzentration, verrät sie.

Am Abend nach der Veranstaltung lässt Evaristo im Gespräch in kleiner Runde ihre Begegnung mit den Jugendlichen noch einmal Revue passieren. „Es war das größte Publikum junger Leute, vor dem ich je aufgetreten bin. Die Schüler waren unglaublich aufgeschlossen und nachdenklich, als sie mir Fragen stellten.“ Auch Eliza Apperly, die Moderatorin, beobachtete eine besondere Dynamik zwischen Evaristo und den jungen Leuten. „Es hat mich wirklich gefreut, so ein enthusiastisches Publikum zu haben.“

Mit 63 Jahren und als Bestsellerautorin hat sie nicht vergessen, welche Sorgen und Ängste sie als junger Mensch umtrieben. Evaristo wolle keine Ratschläge von oben herab erteilen, sondern inspirieren. Positives Mindset und innere Stärke wünsche sie der jungen Generation. „Und lasst euch nicht von den Leuten abbringen, die euch sagen: Ihr schafft das nicht.“