Besuch einer Pflege-WG in Berlin: Warum Pflege-WGs für Homosexuelle sinnvoll sind
Putin klebt an der roten Schrankwand. Könnte er nach unten schauen, er sähe eine Hand, die ein Bild eines Maiskolbens hält. Über den Kolben ist ein Kondom gerollt. Vor Putin, der Hand und dem Kondom-Kolben sitzt Hans-Heinrich. Er lebt in einer Wohngemeinschaft, in der die Wände rosa und die Zeichen eindeutig sind: Regenbogenfahne, Bilder knackiger Männerkörper, Stop-Homophobia-Aufkleber.
„Willste Erdbeermarmelade, mal was Süßes?“, ruft Elke Jentschke Dieter in der offenen Wohnküche zu. Die 56-Jährige pflegt Hans-Heinrich, Dieter und sechs andere Mitbewohner in einer Wohngemeinschaft im „Lebensort Vielfalt“. Es ist eines von wenigen Pflegeangeboten speziell für Homosexuelle - und das, obwohl diese ganz besondere Bedürfnisse im Alter haben, wie Marco Pulver vom Netzwerk „Anders Altern“ in Berlin erklärt.
„Viele ziehen sich in einem herkömmlichen Altenheim total zurück, sie fühlen sich unerwünscht oder wissen nicht, wie die anderen Bewohner reagieren, wenn sie offen über ihre Homosexualität sprechen“, sagt Pulver. „Es ist immer die gleiche Geschichte: Sie haben keinen Kontakt zu anderen - und sterben dann schnell. Sie haben ja kein Motiv mehr, weiterzuleben.“
Homophobie bleibt Alltag
Viele, die jetzt alt werden, hatten schon einen Partner, als Schwulsein noch verboten war. Jetzt trifft diese erste Generation von Rentnern, die offen schwul leben, in Heimen wieder auf Diskriminierung und Vorurteile. Dass nach wie vor viele Pflegeeinrichtungen von Kirchen getragen werden, macht es nicht leichter.
Im „Lebensort Vielfalt“ dürfen alle so sein wie sie sind, da sind sich die Bewohner einig. Deshalb werden alle beim Vornamen genannt. „Manchmal muss ich mich echt zerreißen - schwule Männer brauchen schließlich noch mehr Aufmerksamkeit als andere“, sagt Pflegerin Elke und lacht.
„Mensch, jetzt ist die Erdbeermarmelade schon alle“, sagt sie, wieder an Dieter gewandt. „Aber ich hab hier was anderes. Johannisbeer?“ Dieter antwortet „Jaa! Oh, oh!“. Viel mehr sagt er nicht. Nach seinem Schlaganfall vor drei Jahren hat er seine Sprache fast vollständig verloren. Sein rechter Arm ruht im Schoß, mit der linken Hand schiebt er sich die Marmeladen-Schrippe in den Mund. Schmatzt, schnauft. Dabei tanzt der graue Schnäuzer über die Lippen des 71-Jährigen.
Elke nimmt Dieters rechte Hand. Sie ist zur Faust erstarrt, bis Elke ihre schmalen Finger zwischen seine Handinnenfläche schiebt und die Hand Finger für Finger öffnet. „Als nächstes versuchen wir, die Hand auf den Tisch zu legen, komm. Und jetzt Montag, sag mal Montag, du kannst doch Montag sagen!“ Dieter runzelt die Stirn. „Mmmontag. Diienstag. Mittwoch. Donnnerstag“, sagt er dann mit Elke im Chor. Zur gleichen Zeit hustet Hans-Heinrich. „Er braucht einen Sprachkurs“, murmelt er und schaut zum Fenster hinaus.
Dieter rollt an ihm vorbei in sein Zimmer. Dort sind die Wände nicht rosa, sondern weiß. Über dem hölzernen Pflegebett hängen prunkvolle, golden angestrichene Rahmen, in einem ein Bild von Opernsängerin Maria Callas. Dieter ist Fan. Er zeigt auf eine antike Vitrine, in der ein Diadem steht. Die kleinen Glitzersteine funkeln, obwohl kein Sonnenstrahl ins Zimmer fällt.
„Fah!“, sagt Dieter und rollt auf einen Karton zu, auf dem sich staubige Bücher stapeln. In einen der Buchdeckel ist ein Zeitungsartikel geklebt. „Der Autodidakt mit dem Händchen für Kronen“, steht da. Auf dem Foto schaut Dieter in die Kamera, mit einer Kopie der Edwardskrone in der Hand, er ist sieben Jahre jünger, der Schnauzbart noch dunkelgrau, das Haar voll.
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