Bezirksparlament beschließt: Parken verboten im gesamten Graefekiez
Politiker geben grünes Licht für einen einzigartigen Versuch. 2023 sollen in dem Wohnviertel alle Stellflächen für Autos wegfallen. Wie geht es weiter?

Es ist ein Experiment, das es in dieser Form noch nirgendwo gegeben hat. Ein ganzes Wohnviertel soll mindestens ein halbes Jahr lang alle Auto-Stellplätze verlieren – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Für dieses Modellprojekt, das in einem Teil von Kreuzberg stattfinden soll, hat das zuständige politische Gremium nun grünes Licht gegeben. Am Mittwochabend hat die Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg den Antrag „Graefekiez ohne Parkplätze“ mehrheitlich beschlossen. Grüne und SPD hatten ihn eingebracht.
„Das ist für Alte, Behinderte und Frauen im Nachtdienst eine riesige Sauerei und landet hoffentlich vor Gericht“, lautete ein Kommentar bei Twitter. „Juhu“, jubelte dagegen Peggy Hochstätter, die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion. „Ein guter Abend für die Verkehrswende“: So formulierten es die Grünen im Bezirk. Damit ist der Weg frei für den Feldversuch im Graefekiez, der sich südlich vom Landwehrkanal erstreckt. Das Bezirksamt werde jetzt mit den Beteiligten die genaue Konzeption ausarbeiten, kündigte Grünen-Fraktionschef Pascal Striebel an. Im Frühjahr oder Sommer 2023 könnten die Veränderungen auf den Straßen im Graefekiez, der sich südlich vom Landwehrkanal erstreckt, wirksam werden. Sie sollen zwischen sechs Monaten und einem Jahr andauern.
Angebot: für 30 Euro im Monat im Parkhaus parken
Während des Projektzeitraums soll es im Graefekiez nicht mehr möglich sein, Kraftfahrzeuge im öffentlichen Raum zu parken. Die derzeit rund 2000 Stellplätze auf den Straßen des dicht bebauten Viertels sollen von Anwohnern und Besuchern anders genutzt werden – als Aufenthalts- oder Spielflächen, für Grün und Gastronomie. Bewohnern des Graefekiezes soll die Möglichkeit gegeben werden, ihr Auto im Parkhaus Hermannplatz abstellen zu können – „zum Vorzugspreis von 30 Euro pro Monat“, wie es in dem Beschluss heißt. „Weitere Stellflächen sollen nach Bedarf vom Bezirk angeboten werden.“ Dabei ist unter anderem vom Parkhaus am Kottbusser Tor die Rede.
Juhu, unser Antrag, von @PascalStriebel und mir, zum #Graefekiez ist gerade von der #BVVXhain mehrheitlich beschlossen worden. @SPD_BVVXhain @SpdAk @GrueneXhain @AndreasKnie @WZB_Berlin @CCitiesOrg @VBerlinautofrei @ostkreuzkiez @A100stoppen
— PeggyHochstaetter (@PHochstaetter) June 29, 2022
„Das Befahren der Straßen soll jedoch grundsätzlich weiter möglich bleiben. Auch Zu- und Anlieferungen sollen weiterhin uneingeschränkt möglich sein. Die Parkplätze für Menschen mit Beeinträchtigungen sollen erhalten bleiben, ebenso wie weitere Parkmöglichkeiten für stationsgebundenes und auch flexibles Carsharing auf markierten Flächen. Weiterhin soll es ein zusätzliches Angebot für Mieträder und Mietlastenräder geben“, so der Beschluss weiter. Der Antrag war im Mai eingebracht worden.
Das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) wird den Versuch begleiten. „Der vom WZB verfolgte Ansatz geht von der Hypothese aus, dass vor allen Dingen das weitestgehend kostenfreie Parken von Fahrzeugen zur hohen Attraktivität des motorisierten Individualverkehrs (MIV) beiträgt“, steht in der Begründung des Grünen-/SPD-Antrags vom Mai. „Wenn diese Möglichkeiten nicht mehr gegeben sind, werden sich Menschen von Fahrzeugen trennen und mutmaßlich auch weniger Personenkilometer mit dem MIV absolvieren. Vorausgesetzt ist in diesen Überlegungen aber die Verfügbarkeit von Sharing-Alternativen.“
Forscher sieht keine rechtlichen Probleme
Beobachter rechnen damit, dass Anwohner vor Gericht ziehen. Doch Andreas Knie vom WZB sieht den Bezirk, der für die Durchführung verantwortlich ist, rechtlich auf der sicheren Seite. „Bei den Straßen im Kiez handelt es sich um Spielstraßen“, sagte er. Dort sei Parken grundsätzlich nicht zulässig, es müsse ausdrücklich erlaubt werden – was derzeit noch der Fall ist. Nach Einschätzung der Experten wird die spannende Frage sein, ob das Ordnungsamt des Bezirks es schafft, das Viertel frei von Falschparkern zu halten. Wie schwierig das ist, zeigt sich fast täglich auf dem benachbarten Kottbusser Damm. Dort sind neben den Radfahrstreifen Stellplätze als Lade- und Lieferzonen ausgewiesen worden. Doch diese Flächen werden immer wieder illegal zugeparkt.
Die Linke-Fraktion im Bezirksparlament hatte einen Antrag eingebracht, der eine stärkere Einbeziehung der Bürger verlangt. Die Anwohner seien „nur völlig unzureichend“ beteiligt worden, so die Linke-Fraktionsvorsitzende Gabriele Gottwald. „So ist es keinesfalls hinreichend, eine Befragung auf Bezirksebene vorzunehmen, da die Mehrheit der Befragten vom Feldversuch nicht direkt betroffen ist. Es ist auch nicht hinreichend, ein Meinungsbild auf Basis einer Online-Befragung zu erstellen, da dies keinen gleichen Zugang aller Bewohner:innengruppen gewährleistet. Es ist unerlässlich, zunächst das Meinungsbild der unmittelbar Betroffenen zu erheben.“
Linken-Antrag für mehr Beteiligung abgelehnt
Der Vorschlag der Linken lautete, per Post „eine direkte Befragung der Anwohner:innen im Graefekiez durchzuführen“. Da nicht nur die Bewohner des Graefekiezes die Konsequenzen des Feldversuchs tragen werden, sollte es weitere Befragungen im unmittelbaren Umfeld des Graefekiezes geben. „Dies betrifft insbesondere die angrenzenden Wohnviertel, wo sich der Parkplatzdruck enorm verstärken wird, sowie die Beschäftigten im Urbankrankenhaus“, hieß es in dem Antrag der Linken. Er fand aber in der Bezirksverordnetenversammlung keine Mehrheit und wurde abgelehnt.
Auf die Bedenken der Linken wurde bereits reagiert, sagte Grünen-Fraktionschef Striebel. „Wir haben unseren Antrag um einen Absatz erweitert, der diese Planungsphase konkretisiert und mehrere Informations- und Diskussionsveranstaltungen vor Ort vorsieht“, sagte er am Donnerstag. „Das WZB plant noch in diesem Jahr eine Art Auftaktkonferenz auf dem Zickenplatz in Kreuzberg.