Bloß keine Panik: Warum das 9-Euro-Ticket trotz allem eine gute Sache ist
Volle Züge, wütende Fahrgäste, Tarifwirrwarr: Die Angst grassiert. Dabei ist das Ticket ein Fortschritt, den man bisher für unmöglich hielt – und eine Chance.

Haben die Deutschen einen Hang zur Apokalypse? Offenbar, wie die Debatte um das 9-Euro-Monatsticket zeigt. Überfüllte Züge, angebliche Fallen im Tarifsystem, genervte Fahrgäste: Geht es danach, steht Deutschland ein Sommer der Unzufriedenheit bevor. Dabei gerät allerdings das Wesentliche aus dem Blick, und das ist schade.
Natürlich wird der eine oder andere Käufer des 9-Euro-Tickets auf die Idee kommen, an die Ost- oder Nordsee zu reisen. Auch auf anderen touristischen Strecken werden sich Schnupperkunden in Züge drängen, die jetzt schon regelmäßig zu voll sind, sobald sich ein paar Dutzend Sonnenstrahlen zeigen. Der Berliner Ausflugsverkehr ist schon lange eine Katastrophe. Nichts Neues also. Doch weil diesmal Medienvertreter dabei sein werden, besteht die Chance, dass dieses Problem endlich breiter bekannt wird.
Auf deutlich mehr Strecken gibt es dagegen meist genug freie Kapazitäten. Schon vor Corona rollten viele Busse und Regionalzüge fast leer durch die Gegend. Bis heute leidet der Nahverkehr, der von allen Bereichen der Mobilität am härtesten getroffen wurde, unter den Folgen der Pandemie. Auch bei der BVG und der S-Bahn ist noch viel Luft.
Das 9-Euro-Ticket gilt in mehr als 99 Prozent des Nahverkehrs
Ein aktuelles Angstthema betrifft das angebliche Tarifwirrwarr. Müssen Unwissende damit rechnen, zu Millionen in die Schwarzfahrerkerker geworfen zu werden? Sicher: Noch sind nicht alle Züge, in denen Regio-Tarife anerkannt werden, auch für das 9-Euro-Ticket zugelassen worden. Doch für mehr als 99 Prozent des Nahverkehrs ist das Ticket gültig. Einfach losfahren, ohne ein Fahrgast-Abi ablegen oder vor Automaten grübeln zu müssen – das ist ein bislang nicht für möglich gehaltener Fortschritt. Noch nie war es so einfach, die ganze Vielfalt der Bahnen und Busse in Deutschland zu nutzen.
Denn normalerweise werden die Fahrgäste mit einem Durcheinander von Tarifzonen und Preisstufen konfrontiert. Normalerweise ist Deutschland ein Flickenteppich aus Verkehrsverbünden und verkehrsverbundfreien Gebieten, dessen Karte ungute Erinnerungen an die Kleinstaaterei früherer Jahrhunderte wachwerden lässt. Dieser Zustand spielt drei Monate keine Rolle mehr. Ein Ticket fürs ganze Land – revolutionär!
Na klar, es gibt Kritik, die berechtigt ist. So könnte sich das Sonderangebot als ein milliardenteures Strohfeuer erweisen. Wenn die alte Normalität wiederhergestellt wird und neu gewonnene Kunden feststellen, wie kostspielig manche Tickets und wie kompliziert manche Tarifsysteme sind, werden viele von ihnen erneut ins Auto steigen.

Aber auch ein Strohfeuer kann neugierig machen. Die Verkaufszahlen zeigen, wie groß das Interesse ist. Auch ein Strohfeuer kann Veränderungen bewirken. In diesem Fall wird es gnadenlos Missstände beleuchten, die Insider schon lange beklagen – leider meist unbeachtet. Jetzt wird eine größere Öffentlichkeit erleben, dass Zugkapazitäten zu knapp geplant wurden und Infrastruktur mancherorts bis aufs Skelett abgemagert wurde. Was Sparpolitiker und Planer verbrochen haben, gerät endlich stärker in den Fokus.
Ein Experiment, das gut gehen kann
Ein Land wie Deutschland, das bislang vor allem übers Auto debattierte, spricht auch mal über den Nahverkehr. Der Druck, Dinge grundsätzlich zu verbessern und dies dauerhaft zu finanzieren, dürfte stärker werden. Und wenn wie auch in Berlin und Brandenburg zu erwarten die Fahrpreise steigen sollen, weil der Bund eine auskömmliche Finanzierung verweigert, wird die Wut auf Minister Volker Wissing (FDP) groß sein.
So viel steht fest: Das 9-Euro-Ticket ist ein Experiment, das auch gut gehen kann. Als Marketingaktion bislang ungekannter Dimension, um die uns manch einer im Ausland beneidet, ist es eine historische Chance. Wer jetzt fordert, erst einmal den Nahverkehr zu perfektionieren, der setzt sich in Wahrheit dafür ein, dass diese Chance vertan und das Sonderangebot auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird.
Übrigens wird das Angebot schon verbessert, selbst zwischen Berlin und der Ostsee – eine weitere positive Folge. Klar ist aber auch, dass ein Massengeschäft wie der Nahverkehr selbst bei 150 Prozent Qualität nie ein Niveau erreichen kann, dass auch der kritischste Autofahrer sein Fahrzeug aufgibt. Da sollte man schon realistisch bleiben.
Doch es geht nicht nur um Verkehrspolitik. Vor allem aus Gründen der Gerechtigkeit und der Gleichbehandlung muss es ein Angebot wie das 9-Euro-Monatsticket geben. Damit für viele Millionen Kraftfahrer die Kosten sinken, wurde der Tankpreisrabatt eingeführt. Da ist es unumgänglich, dass auch die Stammkunden und neuen Nutzer des Nahverkehrs entlastet werden. Schon sozialpolitisch gibt es keine Alternative.