Brennpunktschulen in Berlin: Unter 103 Erstklässlern nur ein Muttesprachler
Astrid-Sabine Busse leitet das, was man landläufig als Problemschule bezeichnet. „Wir sind hier im sozial schwächsten Gebiet von Neukölln“, sagt sie. Unter den gerade neu eingeschulten 103 Erstklässlern an der Schule in der Köllnischen Heide ist nur noch ein Schüler mit Muttersprache Deutsch.
In Neukölln lebt die größte arabische Community der Stadt, die Menschen stammen aus dem Libanon oder Palästina. Das schlägt sich in den Klassenzimmern nieder: 77 Prozent der Schüler sind arabischstämmig. Die High-Deck-Siedlung grenzt an das Schulgelände, und auch die Al-Nur-Moschee liegt in der Nachbarschaft. „Das ist schon ein Geflecht hier“, sagt die Schulleiterin. Eine Herausforderung.
Zu Hause fehlt der Schreibtisch
Astrid-Sabine Busse sitzt in ihrem Büro und schenkt Kaffee nach. An einer Wand steht ein großes Aquarium, das soll ihr Ruhe geben, der Erbauung dienen, erzählt sie. Die 61-Jährige ist gerne hier, „alles ist so schön grün hier im südlichsten Teil von Nord-Neukölln“. Astrid-Sabine Busse, rote Haare und resoluter Auftritt, klingt fröhlich. Sie sei eine Optimistin, sagt sie, jemand, der zupackt. Meistens jedenfalls. Und sie macht sich Gedanken, wie sie die Herausforderungen an ihrer Schule meistern soll.
Viele Kinder haben zu Hause keinen eigenen Schreibtisch, sie müssen sich ein Zimmer mit Geschwistern teilen. Rektorin Busse wundert sich über Eltern, die den Geburtstag ihrer Kinder nicht wahrnehmen oder über Zweitklässler, die schon komplizierte deutsche Worte wie „Bolzenschneider“ aussprechen können. Gerade erst habe ein Zweitklässler sie nach einem solchen Gerät gefragt, um sein Fahrradschloss aufzuschneiden. Er hatte den Schlüssel vergessen.
„Unsere Schule soll wie ein Zuhause sein“
Astrid-Sabine Busse führt über das weitläufige, ansprechend gestaltete Gelände. Wenn die Kinder am Nachmittag abgeholt werden, fahren oft große, teure Autos vor. „Mein Auto ist dann das älteste auf dem Parkplatz“, sagt sie. Im Freizeithaus gibt es eine Lern- und eine Holzwerkstatt sowie einen Kreativraum, in dem Schüler und Schülerinnen sich stylen können. Die Kinder können am Computer spielen oder im Märchenraum in Fantasiewelten eintauchen. Betreut werden sie von Honorarkräften oder Ehrenamtlichen. Die Mutter einer ehemaligen Schülerin aus der High-Deck-Siedlung gehört dazu, ein Rentner, eine portugiesische Künstlerin. Immer wieder drängen sich Schüler an Sabine-Astrid Busse, suchen ihre Nähe, wenn sie den Gang entlang kommt.
Schon seit 40 Jahren ist die Einrichtung eine Ganztagsschule. Unterricht und Freizeitangebote wechseln sich bis in den Nachmittag ab. „Unsere Schule soll wie ein Zuhause sein“, sagt die Rektorin. Es gebe kein „Lehrerzimmer“, sondern ein „Personalzimmer“, in dem Lehrer und Erzieher gemeinsam arbeiten.
Über das Bonusprogramm für Schulen in schwieriger Lage wurden Ergotherapeuten und Integrationserzieher geholt. Und unten in der Mensa werden immer noch Gerichte mit Schweinefleisch angeboten. Andere Schulen mit einem geringeren Anteil an muslimischen Schülern verzichten längst darauf. „Aber wir sind ja immer noch eine Schule in Deutschland“, sagt Busse, auch Vorsitzende des Interessenverbandes Berliner Schulleitungen ist. Die 61-Jährige hat aber noch weitergehende Vorstellungen, die geradezu revolutionär wären: „Ich wünsche mir auch eine andere Arbeitszeit für Lehrer, eine ganz normale Arbeitswoche von 8 bis 16 Uhr“, sagt sie, und anstelle der Ferien „meinetwegen 35 Tage Urlaub“. Dann wären die Lehrer wirklich vor Ort präsent.
Die Frage des Kopftuchs spielt eine Rolle, andere religiöse Fragen allerdings nicht
Am Vortag haben in der Schule die Elternabende stattgefunden. „Wir haben gestaunt, dass da plötzliche viele Väter kommen“, sagt die Schulleiterin. Früher habe sich, etwas verschämt, höchstens mal ein Vater dazu gesellt. Aber immer mehr Frauen würden mit Kopftuch zum Elternabend erscheinen, sagt die koordinierende Erzieherin Mirjana Reetz-Telalbasic. Gemeinsam mit Astrid-Sabine Busse bildet sie ein seit Jahrzehnten eingespieltes Team. Zwei Frauen, die so leicht nichts erschüttern kann.
Oft sprechen die Schüler untereinander darüber, was „haram“ ist, und was nicht. Also ob es zum Beispiel nach islamischem Glauben zulässig ist, Gummibärchen mit Gelatine vom Schwein zu essen. Und auch übers Kopftuch wird diskutiert. „Leider tragen auch immer mehr Schülerinnen Kopftücher, in zunehmenden Maße auch diese schwarzen Kopftücher, die als streng islamisch gelten“, sagt Astrid-Sabine Busse. „Ich finde, Frauen sollten erst ab Volljährigkeit entscheiden dürfen, ob sie Kopftuch tragen wollen“, ergänzt die aus Kroatien stammende Erzieherin Mirjana Reetz-Telalbasic.
Erstaunlich ist, dass die Frage des Kopftuchs an der Schule zwar eine Rolle spielt, andere religiöse Fragen allerdings nicht. Letztens war Opferfest. Doch kaum ein Kind konnte sagen, was da eigentlich gefeiert wird, sagt die Schulleiterin. „Es ist ein Bildungsproblem.“
Ein Problem sind die Sprachdefizite
Seit vielen Jahren ist die Quote der Schüler, die zu Hause eine andere Sprache als Deutsch sprechen, an dieser und den umliegenden Schulen hoch. Auch berlinweit ist der Anteil von Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache auf 45 Prozent eines Jahrgangs gestiegen. Bald dürften Kinder mit einer solchen Erfahrung an Berliner Schulen in der Mehrheit sein. Die Schulleiterin wünscht sich deshalb, dass Erstklässler bald mehr Deutschunterricht erhalten.
In einer Erdkundestunde wird erkennbar, wo die Sprachdefizite liegen. Zwar sprechen die Kinder umgangssprachlich einigermaßen gut Deutsch. Aber es gibt in der deutschen Sprache viele Spezialworte, die sie sich nicht erklären können. „Gebirgskamm“ oder „Talkessel“ sagt ihnen gar nichts. In Mathematik kommen längst sprachvereinfachte Unterrichtsmaterialien zum Einsatz. Textaufgaben sind dort besonders verständlich formuliert.
Früher, Anfang der 80er-Jahre, als die Schulleiterin und die Erzieherin hier anfingen, war die Wohngegend noch beliebt bei der Mittelschicht. „Das waren schön große Wohnungen, umgeben von der Mauer – und teurer als in Charlottenburg“, sagt Mirjana Reetz-Telalbasic. Doch dann wurde die Fehlbelegungsabgabe eingeführt. Nach und nach zogen die ursprünglichen Bewohner aus. „Die Politik hat die Gegend selbst zum sozialen Brennpunkt gemacht“, sagt sie. Und die Schule vor immense Herausforderungen gestellt.
Astrid-Sabine Busse glaubt, dass ein gutes Ganztagskonzept, das die Eltern einbezieht, für die Kinder am hilfreichsten ist. „Wir haben nun mal die Schülerschaft, die wir haben. Und um die wollen wir uns kümmern.“