Neue Pläne für das RAW-Gelände: Stirbt die Subkultur in Friedrichshain?
Bürotürme verdrängen Clubs: diesmal in Friedrichshain. Doch ein bisschen Kultur soll bleiben. Gelingt das? Oder sind die zwei letzten Jahre des RAW angebrochen?

Berlin-Ein zu eiliger Blick durch die Maschen des Zauns an der Warschauer Brücke kann trügen. Der Zaun, an dem meist nur noch die letzten Fetzen von Plakaten kleben, steht auf der Mauer an der Westseite des RAW-Geländes, er soll wohl Betrunkene vor dem Herunterstürzen bewahren. Von hier betrachtet, zeigt sich die „Partyzone“ RAW eher von ihrer unangenehmen Seite.
Noch ist es früh, 21 Uhr, am Mittwochabend vor dem Feiertag, noch schleppen vor allem aufgebrezelte, englisch-, spanisch- und deutschsprachige Grüppchen ihre Bier- und Parfumwolken von der S-Bahn in Richtung RAW. Für den erregten Typen, der hinter dem Klohäuschen eine Bierflasche auf den Boden scheppert, interessieren sie sich nicht. Bald wird weiteres Nachtpublikum um die Ecke torkeln, die rotköpfigen Männergruppen, von Koks aufgepeitschte Schreihälse, über die Einheimische dann sagen, an ihnen seien die Billigflieger schuld. Dabei kommen sie überall her: London, Prag oder Warschauer Brücke.
Sei’s drum, denken manche jetzt vielleicht, oder sogar – umso besser? – denn in zwei Jahren wird es das Gelände des ehemaligen „Reichsbahnausbesserungswerk“ ohnehin nicht mehr geben. Nicht so, wie es jetzt ist.
Vor zwei Wochen hat die Eigentümerin Kurth-Gruppe die neuen Bebauungspläne vorgestellt. Sie sehen vor, die über 50.000 Quadratmeter Fläche im Besitz des Familienunternehmens zu einem jener Orte machen, die man dann als „gemischt genutztes Quartier“ bezeichnet. Wenn man so will: Ein positiver Begriff für Gentrifizierung.

Das dominanteste Merkmal soll der 100 Meter hohe Büroturm sein. Der Biergarten Urban Spree und der Club Suicide Circus, die Bar Haubentaucher und die Konzerthalle Astra werden durch den Turm und eine Markthalle ersetzt. Ab 2024 soll gebaut werden. Gegenüber, auf der anderen Seite der Warschauer Brücke, ist dann der 140 Meter hohe Amazon Tower wahrscheinlich schon fertig.

Die Idee: Der RAW-Turm finanziert das, was an Kultur erhalten wird. Manche Orte dürfen bleiben. Konzertstätten und Kneipen wie das Cassiopeia, der Sommergarten, die Bar Zum schmutzigen Hobby sollen für 30 Jahre gegen Betriebskosten unter einen „Schutzschirm“ kommen, wie es der Baustadtrat Florian Schmidt (Grüne) im Interview mit Radioeins sagte. Sie mieten alle im „soziokulturellen L“, Backsteingebäude, die unter Denkmalschutz stehen und aus den jüngeren Tagen des Geländes stammen, aus denen es noch seinen Namen hat. Die Pläne der Kurth-Gruppe sollen das ganze Areal „aufwerten“.
Da lohnt ein Gang die Metalltreppe runter von der Warschauer Brücke, rein in die Nischen des Geländes. Aus dem Urban Spree dudelt Ambient-Musik, im Cassiopeia ist ein Konzert zu Ende. Gleich ist Party, die Türsteherin weist ein paar Jungs zurecht – „Lasst eure Bierflaschen am Eingang!“ –, sie folgen brav, im Sommergarten bei der Skatehalle surrt das Getuschel der Gäste, an der Rückwand des Kletterturms „Kegel“ kleben Leute an winzigen Griffen. Im Zirkus Zack wird noch geprobt, durch das Fenster im Dachstuhl sieht man jemanden an einem Seil Akrobatik machen. So was meint der für seine „Geheimtipps“ bekannte Reiseführer „Lonely Planet“ wohl, wenn er das Gelände als eine der letzten „subkulturellen Mischungen“ Berlins bezeichnet.
Baustadtrat Florian Schmidt steht hinter den Plänen
Baustadtrat Florian Schmidt, der sonst für seine hartnäckigen Kämpfe in der Mietenpolitik bekannt ist, zeigt sich mit den Plänen für das Quartier zufrieden. Es soll sogar mehr „Freiraum“ geben, sagte Schmidt, mehr Platz zum „Entlanggehen“ oder für „Events“. Er sagte: „Das wird ein sehr lebendiger Ort.“
Die Frage ist: Kann man lebendige Orte planen? Oder ist es bald Zeit für einen Nachruf auf das subkulturelle Friedrichshain, dem das Stadtmagazin „tip“ wegen der neuen Pläne für das RAW-Gelände schon sein „Ende“ prophezeite?
Seit der Wende wuchs das, was das RAW-Gelände heute so lebendig macht, zwischen den Brachen der Industrie, die Ende der 1990er niemanden interessierten. Geplant wurde da wenig. Wie an so vielen Orte damals im Zentrum von Berlin.

„So sah es hier früher überall aus“, sagt Toni Jakob, 36, Kreuzberger Graffiti-Künstler, und deutet auf die zerbröckelten Mauern einer Halle auf der Ostseite des RAW. Jakob ist ein ruhiger Typ, der erst dann viel sagt, wenn er gefragt wird. Das Dach, auf das er deutet, ist löchrig, drinnen wuchern Gräser über einem blauen Pkw.
Toni Jakob hat auf dem RAW-Gelände sein erstes Graffito hinterlassen. Das muss 2004 gewesen sein, erinnert er sich, er war gerade 18, fertig mit der Schule. Mit einem Freund verbrachte er unzählige Nachmittage hier. „Wir haben Caps für Spraydosen ausprobiert, versucht, unsere Namen zu schreiben, einfach an die Wände gemalt“, sagt Jakob. Niemand hat sich daran gestört, wenn sie in die Ruinen stiegen, niemand verlangte Geld oder ein künstlerisches Ergebnis.
Am Mittwochmittag, ein paar Stunden vor der Vor-Feiertags-Abendstimmung, spaziert Toni Jakob mit Caro Eickhoff zwischen den Schatten umher, die die alten Backsteinwände und die neueren DIY-Holzhäuschen mit Gastroangeboten auf den Boden werfen. Die 43-jährige Eickhoff ist Street-Art-Stadtführerin und Bloggerin. Beide sind Teil des Kollektivs „Reclaim Your City“, ein Netzwerk aus Kunst- und Stadt-Initiativen, das es seit 2003 gibt. Im April haben sie einen Bild- und Textband „BITTE LEBN“ herausgegeben, der Titel bezieht sich auf einen Wandspruch am Schlesischen Tor.
Das Buch dokumentiert von der Jahrtausendwende bis heute das Berlin der besetzten Häuser, der Graffiti-Szene, der Raves, der vernachlässigten und angeeigneten Orte: dem Inbegriff von Subkultur.
Sie wuchs an Orten, die es heute nicht mehr gibt. Das Spreeufer, die Glasfabrik am Ostbahnhof, die alte Villa am dem heutigen Mercedes-Benz-Areal. „Es war klar, dass es das RAW auch irgendwann trifft“, sagt Jakob. Niemand wünsche sich Vermüllung und Brachen. In der sogenannten Aufwertung aber, die Berlin mitten in seinem Zentrum zulässt – und die oft die großen Firmen-Namen mit sich bringt, Zalando, Mercedes, Amazon und Co. –, befürchtet Jakob eine Regulierung, die sich am Ende nach der Zahlkraft, nicht nach den Bedürfnissen der Bewohner richte.
Bürgerbeteiligung? Das RAW-Gelände ist privat
Was die Bedürfnisse der Bevölkerung sind, weiß Lokalpolitik über Beteiligung. Doch das RAW ist Privatgelände – und obwohl es Dialogrunden und BVV-Sitzungen gab, am Ende entscheidet der Investor.
Wenn Caro Eickhoff sich die Pläne für das RAW-Gelände ansieht, schaudere sie es, sagt sie. Da steige die Erinnerung hoch an den Volksentscheid „Spreeufer für alle“ im Jahr 2008, bei dem 87 Prozent der Friedrichshain-Kreuzberger Bevölkerung für einen Erhalt der Freiflächen entlang des Spreeufers stimmte. „Es hat sich angefühlt, als ob wir was rocken“, sagt Eickhoff. Im Rückblick war das aus ihrer Sicht bloß eine Scheinbeteiligung. Denn gebaut wurde trotzdem, mitten auf dem ehemaligen Mauerstreifen. Und nun also das RAW.

Das zwischen den übriggebliebenen Brachen längst kommerziell geworden ist, das mit seinen Clubs zum Touri-Magneten wurde, wo ein Burger knapp 15 Euro kostet. Wo es gelegentlich zu nächtlichen Überfällen kommt, und sich die Anwohnerinnen nach langen Nächten durch Scherbenteppiche kämpfen müssen. Wo aber auch noch etwas übrig ist von diesem Flair des Freiraums, in der die Miete nicht bestimmt, wer sich wie und wo ausprobieren kann.
Der Urban-Spree Biergarten ist ein gutes Beispiel für diese Parallele von Kommerz und alternativen Räumen. Es kostet fünf Euro Eintritt, dort abends Bier trinken zu dürfen, aber in den Galerieräumen können unbekannte Künstlerinnen ihre Werke ausstellen. Eintritt frei.
Die Räume verschwinden – und sie kommen nicht wieder
Zu einer Anfrage der Berliner Zeitung, ob weitere Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger zur Gestaltung des Geländes geben soll, sagt das Bezirksamt knapp: Ja. Doch einen Zeitplan gebe es noch nicht. Bisherige Formate für das RAW nennt Caro Eickhoff eher „Beteiligung auf dem Papier“, konkrete Vorschläge von Initiativen wurden nicht umgesetzt. Es habe den Wunsch nach kostenlos nutzbarem Raum, nach Grünflächen, nach weniger Müll gegeben. „Garantiert nicht nach Büros“, sagt die Stadtführerin. „Dass sich die Stadt verändert, ist ja nicht schlecht“, sagt sie. „Aber immer mehr Orte, lebendige Orte, verschwinden. Die sind weg, und die kriegen wir auch nicht wieder.“
Schon jetzt darf auf den Mauern der Gebäude nur noch gemalt werden, wenn man um Erlaubnis bittet, sagt Eickhoff. Dem Magazin „tip“ sagte der Eigentümer Lauritz Kurth, das bliebe so, doch müsse zukünftig auf „religiöse, politische und nicht jugendfreie Bilder und Mitteilungen“ verzichtet werden. Für Künstler wie Toni Jakob kommt es aber nicht infrage, mit Erlaubnis oder unter Aufsicht zu sprayen. Ihre Kunst ist politisch.
Die Berliner Subkultur wird solchen Regeln ihre eigenen Antworten geben. Ein Teil davon wird sicher sein: Es ist nicht egal, was mit ihr geschieht. Raver und Sprüher trifft man heute eher in Charlottenburg-Wilmersdorf, Oranienburg oder Erkner. Wo es Flecken gibt, für die sich (noch) kein Konzern interessiert.