BVG-Chefin: Sigrid Nikutta will trotz großer Probleme im Schienen- und Busverkehr bleiben
Berlin - Wenn alles stillsteht, werden sie sich in Bewegung setzen. Einige tausend Beschäftigte der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) ziehen an diesem Freitag nach Mitte, teilt die Gewerkschaft Verdi mit. Während der angekündigte Warnstreik Busse, U- und Straßenbahnen lahmlegt, demonstrieren sie vor der Hauptverwaltung ihres Arbeitgebers für bessere Bedingungen. Es passiert mal was auf der sonst so öden Holzmarktstraße.
Sigrid Nikutta wird die Demonstranten und ihre roten Fahnen nicht sehen, ihre Trillerpfeifen und Buhrufe nicht hören. Die 49-Jährige, die Vorstandsvorsitzende und derzeit noch Betriebsvorstand des größten kommunalen Nahverkehrsbetriebs in Deutschland ist, hat ihr Zimmer auf der Rückseite des silbrig glänzenden BVG-Gebäudes. Sie blickt auf die Spree und die Stadtbahngleise, auf denen S-Bahnen und ICE-Züge vorbeigleiten. Von der zwölften Etage aus sieht Berlin freundlich, gut verwaltet und geplant aus. Es ist ein Anblick, der täuscht.
BVG-Chefin Sigrid Nikutta wollte „Bestimmerin” werden
Seit Oktober 2010 arbeitet die promovierte Psychologin, die von der Deutschen Bahn zu dem Landesunternehmen kam, in dem hellen Raum über dem Fluss. „Acht Jahre, vier Monate. Da hätte keiner einen Pfifferling darauf gewettet“, sagt sie. Das Gespräch mit ihr findet statt, als sich der Tarifkonflikt mit der Gewerkschaft abzeichnet.
Nikuttas Büro sieht stellenweise aus wie ein Laden für BVG-Souvenirs mit einem Hauch von Kinderzimmer. Auf einem Regal sitzt ein Teddybär, der einen Anzug mit dem rot-blau-schwarzen Sitzbezugmuster der BVG trägt. Er fällt kaum auf neben den Bechern, Thermosflaschen und Taschen, die ebenfalls im Urban-Jungle-Design gestaltet sind. Auf einem anderen Regal grinsen Playmobil-Figuren im Gleisarbeiterdress, intern als Harry Schotter bekannt, vor sich hin. Als Nikutta klein war, hat sie angekündigt, dass sie „Bestimmerin“ werden will. Von ihrem Kindergarten im ostwestfälischen Enger führt eine gerade Linie in den Raum A 1211.
Nikutta erinnert sich an ihren Anfang bei der BVG. „Es gab jede Menge Einschätzungen, die mir klarmachten, dass die Aufgabe hochkomplex wird“, sagt sie. Die Berliner Zeitung titelte: „Der Knochenjob geht an eine Frau.“ Es sei „unglaublich herausfordernd, aber auch unglaublich spannend“, meint Nikutta. „Und es gibt nur eine sichere Komponente in meinem Tagesablauf: dass etwas passiert, womit ich in keiner Weise gerechnet habe.“
BVG wächst, doch erreicht Ziele nicht
Der Warnstreik am Freitag ist eines ihrer kleineren Themen. Große Dauerprobleme nerven die BVG-Nutzer, von denen es 2018 rund 1,1 Milliarden gab – 19 Prozent mehr als 2010, als Nikutta antrat. U-Bahnen fallen aus, andere Züge sind kürzer als gewohnt. Tag für Tag bleibt eine dreistellige Zahl von Wagen in den Werkstätten. Auch bei Bussen und Straßenbahnen sind Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit auf einem Rekordtief. „Im vergangenen Jahr ist uns das Wachstum nicht geglückt,“ gesteht die Chefin ein. „Wir wollten 1,3 Millionen Buskilometer zusätzlich fahren, geschafft haben wir 400.000.“
Auch die Verwaltung trägt eine Mitschuld. Busse stecken im Stau, weil das Busspurennetz seit Jahren kaum gewachsen ist. So langsam wie heute war der Busverkehr lange nicht. Voll besetzte Straßenbahnen müssen vor Ampeln warten, während Autos, in denen nur wenige Menschen sitzen, grünes Licht bekommen. Bei der Verkehrslenkung, der oberen Straßenverkehrsbehörde von Berlin, aber auch bei Planern und Politikern hat der Nahverkehr nicht den Vorrang, den er verdient. Es ist auch dieses Desinteresse, dass vielen Berlinern den Alltag sauer macht.
Acht neue U-Bahn-Fahrzeuge in acht Jahren
Dass es bei der U-Bahn zu Engpässen kommen wird, hat sich lange abgezeichnet. Die Flotte ist betagt, einige Wagen haben heute mehr als sechs Jahrzehnte hinter sich. Von 2008 bis 2016 wurden gerade mal acht U-Bahn-Fahrzeuge angeschafft. Obwohl die Zahl der Fahrgäste auch in den Nullerjahren wuchs, wurde die Flotte um 68 Wagen verkleinert. „Doch wie waren denn damals die Bevölkerungsprognosen? Es war von Stagnation die Rede“, entgegnet Nikutta. „Damals, vor meiner Zeit, war klar: keine neuen U-Bahnen, die alten sollen ertüchtigt werden.“
„Bereits in den 1990er-Jahren hieß es, dass die BVG fett gefressen sei, dass sie zu viel Personal und eine zu große Fahrzeugreserve habe“, sagt jemand, der damals auf Seiten der Arbeitnehmer aktiv war. Diese Aversion war vor allem bei der SPD zu spüren, aber auch bei den Grünen. „Bei denen hieß es: Wir brauchen keine Luxus-Straßenbahnen.“ Quer durchs Parteienspektrum ging es mit neoliberalem Sound ums Sparen, um Effizienz – weniger um das, was Berlin und seine Bewohner brauchen. Der erste rot-rote Senat wollte Berlin sparen lassen, bis es quietscht. Nun quietsche die BVG, sagt das damalige Mitglied des obersten Gremiums. „Wir haben im Aufsichtsrat darauf hingewiesen, dass investiert werden muss.“ Doch Thilo Sarrazin, der als Finanzsenator den Aufsichtsrat leitete, habe entgegnet: Er habe in Mailand alte Straßenbahnen gesehen, die doch noch sehr gut funktionieren würden.
Mobilitätsforscher Andreas Knie kritisiert Sigrid Nikutta
„Sigrid Nikutta hat sicher unterschätzt, das die Fehler in den vergangenen 15 Jahren darin lagen, dass einfach kein neues Material angeschafft wurde“, sagt der Mobilitätsforscher Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin. „Da ist Berlin nicht alleine, das ist symptomatisch für den gesamten öffentlichen Verkehr in Deutschland. Er steht und stand immer im Schatten des Autos, er wurde zwar immer zitiert als Zukunftsfeld, aber es wurde rein gar nichts zur Modernisierung getan.“ Nikutta habe versucht, dies zu ändern, es aber nicht geschafft, so Knie.
Viele Versäumnisse stammen aus der Zeit vor ihr, das stimmt. Aber nicht jeder will die jetzige BVG-Chefin aus ihrer Verantwortung entlassen. „Die Probleme des Investitionsstaus sind unter ihr nicht ausreichend angegangen worden. Dem Senat konnte der BVG-Vorstand die Dringlichkeit der Probleme des täglichen Betriebs nicht ausreichend vermitteln“, sagt der FDP-Verkehrspolitiker Henner Schmidt. Krise? Welche Krise? Petra Reetz (heute Nelken), Nikuttas Vertraute und Kämpferin in der Pressestelle, dämmte Kritik resolut ein. Wer wie der Fahrgastverband IGEB dagegenhielt, wurde abgekanzelt.
Sigrid Nikuttas Personalpolitik als Wurzel vieler BVG-Probleme
Einem anderen Abgeordneten fiel etwas auf: Immer dann, wenn mal wieder über einen möglichen Wechsel Nikuttas in den Vorstand der DB spekuliert wurde, wollte die BVG besonders wenig von Problemen sprechen. „In diesen Phasen sollte bei der BVG alles okay wirken.“ Dieses Aufhübschen habe dem Senat in die Hände gespielt: Weil es offenbar keine Probleme gab, musste er auch nichts unternehmen. Als Experten anregten, die Fahrzeugfinanzierung auf neue Füße zu stellen, trat der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) auf die Bremse: „Wowi interessierte das alles nicht“, erinnert sich der Abgeordnete. Es war eine verlorene Zeit.
Auch Nikuttas Personalpolitik wird als Wurzel vieler Probleme gesehen. „Neue Führungskräfte haben keine entsprechende Fachkenntnis und Führungserfahrung“, steht in einer Analyse, die seit 2018 in BVG-Kreisen kursiert. Dagegen mussten bewährte Mitarbeiter das Unternehmen verlassen – zum Beispiel U-Bahn-Chef Hans-Christian Kaiser sowie sein Abteilungsleiter Fahrzeuge, Martin Süß. Den Chefposten hat jetzt Nicole Grummini inne, die Nikutta noch aus Bahnzeiten kennt. Die BVG-Chefin kennt auch Rico Gast, der nun Straßenbahnchef ist, von früher: Er war ihr in ihrem Stab tätig. Das Betriebsklima sei vielerorts schlecht, heißt es. „Es wird enormer Druck, teils mit Drohungen, auf die Belegschaft ausgeübt. Die Demotivation hat zugenommen. Meist wird nur noch ‚Dienst nach Vorschrift‘ gemacht.“
Männer und Frauen werden laut Nikutta nicht gleich gesehen
Dass Mitarbeiter mit Brandbriefen in die Öffentlichkeit gehen, um Personalmangel, Technikprobleme und Misswirtschaft anzuprangern, habe es früher nicht gegeben, sagt der SPD-Politiker Tino Schopf. Viele BVGer hätten die „Schnauze voll“ von hoher Belastung und mäßiger Bezahlung. Frühere Mechanismen, Streit auszutragen, würden offenbar nicht mehr richtig funktionieren: „Solche Themen müssten im Aufsichtsrat thematisiert werden.“ Aber auch im Gesamtpersonalrat sei Ruhe eingekehrt, sagt ein anderer Beobachter. Bei der Gewerkschaft Verdi sieht es so aus, als ob dort ebenfalls Landschaftspflege im Sinne der BVG stattgefunden hätte. Frank Bäsler, der oft Kontra gegeben hatte, ist seit 2014 nicht mehr Sekretär. Er hatte sich mit seinen Oberen angelegt.
Wenn sie ihre Personalpolitik kommentieren soll, spricht Sigrid Nikutta noch lauter als sonst. „Ich kenne sie beide“, sagt sie zu der U-Bahn-Chefin und zum Tram-Chef. „Sie haben ihre Posten leistungsbedingt und nach einem Auswahlverfahren bekommen. Beide haben ein unterschiedlich schweres Erbe angetreten, das bei der U-Bahn ist deutlich schwerer als bei der Straßenbahn.“ Sie ärgere sich darüber, wie wenig mediale Unterstützung die U-Bahn-Chefin dafür erhält, dass sie ebenfalls einen Knochenjob macht. Grumminis Arbeit werde kritischer betrachtet als die des Straßenbahnchefs. „In der Öffentlichkeit werden Frauen in diesen Positionen deutlich kritischer betrachtet. Männer und Frauen werden nicht gleich gesehen.“
BVG-Interessen kämpferisch gegenüber der Berliner Politik vertreten
2010 habe sie in einer Zeitung gelesen: Eine 42-jährige Psychologin aus Polen mit drei Kindern wird BVG-Chefin. „Da wusste ich: Welcome to Berlin!“ Nikutta, heute fünffache Mutter, wurde in Szczytno (Ortelsburg) in Masuren geboren, bevor sich die Familie bei Herford niederließ. Es gebe Themen, die Männern gegenüber nicht angesprochen werden, klagt sie. Auch ihr damaliger Finanzvorstand Henrik Falk habe Kinder. „Er wurde nicht gefragt, wie er damit zurechtkommt.“
Ist Sigrid Nikutta die Richtige auf ihrem Posten? „Mit ihr ist ein konstruktives Miteinander möglich“, sagte Verdi-Sekretär Jeremy Arndt, Verhandlungsführer im laufenden Tarifkonflikt. Bei ihren Fahrten mit der BVG suche sie Kontakt mit den Kollegen. „Ich habe sie immer als ansprechbar erlebt. Sie hat die Interessen der BVG gegenüber der Berliner Politik oft auch kämpferisch vertreten, was mir gefällt“, so Henner Schmidt von der FDP.
„Ich empfinde sie immer noch als einen Glücksfall für Berlin“, lobt der Mobilitätsforscher Andreas Knie. „Mit ihr könnte die Modernisierung gelingen“ – mehr Fahrzeuge für den Nahverkehr, andere Tarife, mehr digitale Angebote, eine andere Verteilung des Straßenraumes. Das Problem liege nicht bei der BVG, sondern im Senat: „Das, was wir dort gerade an öffentlicher Verkehrspolitik erleben, ist Pritzelkram. Nicht Frau Nikutta ist das Problem, sondern der beaufsichtigende, kontrollierende und genehmigende Senat.“
„Nicht allzu viel positive Rückmeldung“
Was haben die Fahrgäste zu erwarten? Nach langem Zögern hat sich Nikutta dazu entschlossen, die Wachstumsprobleme bei der BVG offen anzusprechen. „Das Thema ist in der Politik angekommen“, bestätigt der SPD-Abgeordnete Tino Schopf. Nikutta erlebt nun, wie plötzlich der Geldhahn aufgedreht wird. „Jetzt müssen wir das Wachstum managen. Für ein Unternehmen, das 20 Jahre in die andere Richtung gegangen ist, stellt das eine große Herausforderung dar“, sagt sie.
Als sicher gilt aber, dass es noch Jahre dauern wird, bis sich die Lage bei der U-Bahn entspannt. Selbst wenn es die BVG schafft, das laufende Vergabeverfahren bald zu beenden und im Frühjahr Züge zu kaufen: Die neuen Wagen können erst von 2023 an in substanziellen Mengen geliefert werden. Nikuttas Vertrag endet 2022. Im Sommer soll die Verantwortung für den Betrieb von ihr auf ein neues Vorstandsmitglied, das noch zu berufen ist, übertragen werden. „Doch der neue Betriebsvorstand wird eine längere Einarbeitungszeit brauchen, in der sich noch nicht so viel bewegen wird“, gibt der CDU-Politiker Oliver Friederici zu bedenken.
Nächste Station DB-Vorstand?
Nikutta wird Vorstandsvorsitzende bleiben, zudem übernimmt sie den Posten als BVG-Finanzchefin. Es halten sich aber Gerüchte, dass es sie weiterhin zur Bahn zieht. „Ich fände es bedauerlich, wenn sie zur DB gehen würde“, sagt Friederici. „Ich sehe niemanden, der ihr Nachfolger werden könnte.“
BVG-Chefin – immer noch ein Knochenjob? „Eine Lebensaufgabe“, meint Nikutta. „Nichts, wo man im Urlaub sagen kann: Jetzt schalte ich mein Handy aus. Es muss ein Herzensthema sein“ – weil es „nicht allzu viel positive Rückmeldung“ gibt. Doch in Berlin finde eine Verkehrsrevolution statt, die sie mitgestalten wolle. Routinen ändern sich, digitale Verkehrsmittel wie der Fahrdienst Berlkönig finden immer mehr Zuspruch. Ach ja, noch etwas: „Schreiben Sie, dass die BVGer einen guten Job machen! Ich erwarte keine Dankbarkeit, aber ein bisschen mehr Anerkennung für ihre Leistungen.“
Steht in ihrem Plan: nächste Station Bahnvorstand? „Nein, da steht: Berlin“, sagt Nikutta. „Da habe ich einen gewissen Lokalpatriotismus entwickelt.“ Die Harry-Schotter-Figuren in ihrem Büro lächeln milde.