Chef des Fahrradclubs: „Wer sein Auto betankt, fördert das System Putin“

Bloß weil Krieg ist, geht der Straßenverkehr in Berlin nicht zurück, sagt Frank Masurat vom ADFC. Er will autofreie Sonntage und 60.000 Parkplätze weniger.

Mit dem Rad in Berlin unterwegs: Fahrradlobbyist Frank Masurat, Landesvorsitzender des ADFC
Mit dem Rad in Berlin unterwegs: Fahrradlobbyist Frank Masurat, Landesvorsitzender des ADFCSabine Gudath

Wie heißt es so schön? Das Private ist politisch. Der Großteil des Kraftstoffs, der in Berlin und Brandenburg getankt wird, stammt aus Russland. Wer Auto fährt, trägt dazu bei, den Angriff auf die Ukraine mitzufinanzieren, sagt Berlins oberster Fahrradlobbyist Frank Masurat. Wer stattdessen in die Pedale tritt oder zu Fuß geht, handelt gegen den Krieg. Im Interview mit der Berliner Zeitung fordert der Landesvorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) mehr Tempo 30, autofreie Sonntage, eine Halbierung der Autozahl – und dass jedes Jahr 60.000 Parkplätze in Berlin umgewandelt werden.

Herr Masurat, Sie sind mit dem Rad gekommen. Fahren Sie auch mit dem Rad zur Arbeit?

Im Moment arbeite ich viel zu Hause. Aber wenn ich ins Büro oder zu Veranstaltungen fahre, nehme ich natürlich das Fahrrad. 17 Kilometer von Alt-Mariendorf nach Siemensstadt, nach Feierabend 17 Kilometer zurück.

In der Ukraine tobt ein Krieg, den Deutschland mit dem Kauf von Erdöl und Erdgas mitfinanziert. Haben Sie den Eindruck, dass seit dem Beginn des russischen Angriffs weniger Auto gefahren wird?

Natürlich schimpfen die Menschen auch in Berlin über die gestiegenen Spritpreise, aber der Straßenverkehr hat sich nach meiner Einschätzung in den vergangenen Wochen nicht verändert. Bloß weil Krieg ist, wird in Berlin nicht weniger Auto gefahren. In meinem Wohnviertel ist der nächste Bäcker nur wenige hundert Meter entfernt. Doch weiterhin fahren viele Menschen am Wochenende mit dem Auto dorthin, um Schrippen zu kaufen. Da ist nichts anders geworden.

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Warum wird weiterhin so viel Auto gefahren?

Es ist Gewohnheit, und es dauert, bis Menschen ihr Verhalten ändern.

Was hat Auto und Rad fahren mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu tun?

Ein großer Teil des Erdöls, das in Deutschland verbraucht wird, kommt aus Russland. Wer sein Auto betankt, fördert das System Putin. Anders formuliert: Wer Erdöl verbraucht, trägt in vielen Fällen dazu bei, den Krieg in der Ukraine in Gang zu halten. Es wird immer klarer, dass wir uns aus der Abhängigkeit von Öl und Gas befreien müssen. Die fossilen Energien belasten nicht nur das Klima, mit ihrem Kauf wird auch ein Krieg mitfinanziert. Das Fahrrad als Mittelpunkt der Verkehrswende würde helfen, von diesem fatalen Zustand wegzukommen.

Das Erdöl für rund 90 Prozent des in Berlin und Brandenburg getankten Kraftstoffs stammt aus Russland. Haben Radfahrer einen weiteren Anlass, sich moralisch auf der richtigen Seite zu fühlen?

Der Hauptgrund, warum Menschen Rad fahren, ist kein ethischer oder moralischer. Sondern, dass man sich auf dem Fahrrad frei fühlen kann, dass man zügig ans Ziel gelangt, dass man planbar pünktlich zu Terminen kommt. Das waren schon immer die wesentlichen Beweggründe, und daran hat sich nichts geändert. Das Fahrrad ist ein ungemein praktisches Verkehrsmittel, das zudem fit hält.

Der ADFC Berlin ruft zu Demonstrationen auf unter dem Motto „Verkehrspolitik für den Frieden“. Was ist damit gemeint?

Anlass war die bundesweite Diskussion um eine Spritpreisbremse. Aus unserer Sicht setzt ein Tankrabatt, wie ihn die FDP vorgeschlagen hat, oder eine Senkung der Energiesteuern auf Kraftstoff, wie sie die Ampelkoalition am Donnerstag unter anderem beschloss, falsche Anreize. Es ist falsch, den Ölverbrauch auch noch zu subventionieren und zugleich einen Krieg mitzufinanzieren. Ein solcher Rabatt ist auch unsozial, weil wohlhabendere Menschen stärker profitieren würden als ärmere, die oft kein Auto besitzen. Wir müssen wegkommen von fossilen Energien, hohe Preise würden helfen.

Geplant ist nun auch eine Energiepreispauschale von 300 Euro, die allen Bürgern als Zuschuss zum Lohn oder Gehalt ausgezahlt wird. Ist das besser?

Ja, das hört sich besser an. Ein solches Verfahren ist gerechter, weil wir alle Menschen unterstützen, nicht nur Autofahrerinnen und Autofahrer. Alle Fortbewegungsarten profitieren, auch das Radfahren. Und die Lenkungswirkung ist größer, weil viele Autonutzerinnen und Autonutzer darüber nachdenken werden, ob sie das Geld für Autofahrten verwenden – oder ob es sich effizienter einsetzen ließe.

Langsamer fahren trägt ebenfalls dazu bei, den Spritverbrauch zu senken. Der Senat ist nun endlich der bundesweiten Städteinitiative beigetreten, die vom Bund mehr Spielräume bei der Festlegung von Tempo-30-Bereichen fordert. Wie finden Sie das?

Gut! Nun muss weiter Druck gemacht werden. Wo es jetzt schon möglich ist, müssen auch in Berlin weitere Tempo-30-Bereiche eingerichtet werden.

Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey sieht das offenbar skeptisch, die SPD-Politikerin versucht zu bremsen. Steht dem Senat ein Streit bevor?

Ich kann die Situation innerhalb des Senats nicht einschätzen. Doch auch in Berlin sollten wir die einzigartige Chance, die uns die jetzige Situation bietet, besser nutzen. Es muss einen Ruck durch Deutschland, einen Ruck durch Berlin geben. Wir erleben eine Zeitenwende, die uns dazu zwingt, regenerative Energien zu stärken und die Mobilitätswende voranzubringen. Die Bundesregierung und die Regierende Bürgermeisterin müssten dies den Menschen viel stärker als bisher vermitteln. Das vermisse ich.

Was könnte der Senat sonst noch unternehmen?

Als in den 1970er-Jahren das Öl knapp wurde, gab es in der Bundesrepublik autofreie Sonntage. An diesen Tagen durfte nicht Auto gefahren werden, es gab nur ganz wenige Ausnahmen. Die Aktionen trugen nicht nur dazu bei, Energie zu sparen, sie regten auch die Menschen dazu an nachzudenken, wie sie ihren Verbrauch senken könnten. Die guten Erfahrungen von damals sollten wir jetzt wieder aufnehmen. Wir brauchen autofreie Sonntage in Berlin. Mittlerweile 80.000 Geflüchtete aus der Ukraine erleben in unserer Stadt gerade eine große Hilfsbereitschaft. Die Menschen sind bereit sich einzuschränken, zu helfen und ihr Verhalten zu ändern. Es bedarf eines Impulses, um das auszuweiten, und diesen Impuls wünsche ich mir vom Senat.

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Carolina Mazza/ADFC Berlin
Seit 1989 in Berlin
Frank Masurat (61) ist seit dem vergangenen Jahr Berliner Landesvorsitzender des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC). Zuvor war er im Vorstand für Finanzen und Politik zuständig.                                                        In seiner Heimatstadt Kiel studierte Masurat Informatik und Betriebswirtschaftslehre. Nach dem Diplom arbeitete der Informatiker in Tokio. 1989 zog er nach Berlin und begann seine Karriere im IT-Bereich des Lufthansa-Konzerns.

Wäre jetzt nicht auch Zeit für weitere Pop-up-Radwege und andere ungewöhnliche Maßnahmen?

Am schönsten wäre es, wenn wir in Berlin mit den ganz gewöhnlichen Maßnahmen weiterkämen. Das Mobilitätsgesetz und der Radverkehrsplan, der das Radnetz festlegt, sind Vorgaben, die nun endlich konzentrierter als bisher umgesetzt werden müssen. Wir wünschen uns für 2022, dass Bezirke und Senat Kilometer machen: dass das Berliner Radverkehrsnetz schnell wächst und der öffentliche Raum schnell umverteilt wird.

Wie sind Ihre Erwartungen?

Leider nicht so gut. Wir befürchten, dass die Umsetzung weiterhin viel zu langsam vorangeht und dass es weitere massive Verzögerungen geben wird. Immer noch fehlen die Strukturen, die erforderlich sind, um die Ziele zügig zu verwirklichen. Das betrifft das Zusammenspiel von Bezirks- und Landesebene. Außerdem gibt es weiterhin kein Monitoring und kein Kontrollsystem, mit dem wir feststellen könnten: Wo stehen wir? Wo sind wir vorangekommen, wo müssen wir nachsteuern? Planerinnen und Planer sowie Politikerinnen und Politiker befinden sich im Blindflug. Es gibt Verzögerungen ohne Ende, zum Beispiel bei den geplanten Radschnellverbindungen. Dann sind doch noch zwei weitere große Probleme.

Welche?

Das mangelnde Geld und das fehlende Personal. Weil Berlin sparen muss, wird der geplante Doppelhaushalt mit Sicherheit auch diesem Bereich Mittelkürzungen bescheren. Zudem können viele Projekte nicht beginnen, weil der Landesetat noch nicht verabschiedet ist. Damit bekommen wir wieder ein halbes Jahr Verzug. Wir erwarten, dass die Abgeordneten bei der Verabschiedung des Doppelhaushaltes Sorge dafür tragen, dass die gesetzlichen Vorgaben aus dem Mobilitätsgesetz umgesetzt werden können. Was das Personal anbelangt, so schreibt das Mobilitätsgesetz vor, dass jedes Bezirksamt zwei Stellen für Radverkehrsplanerinnen und Radverkehrsplaner bekommt. Doch auch diese Vorgabe wird immer wieder verletzt.

Regiert die neue Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch besser oder schlechter als ihre Vorgängerin Regine Günther?

Ein solcher Vergleich fällt mir schwer. Was ich bei Frau Jarasch positiv finde, ist ihre Initiative für mehr Tempo 30 in der Stadt. Gut ist auch ihre Idee im 100-Tage-Programm, gemeinsam mit willigen Bezirken den Ausbau des Radverkehrsnetzes voranzubringen. Es ist richtig, eine Landesgesellschaft zu gründen, die den Bau von Radfahrstreifen auf Hauptverkehrsstraßen vorantreibt. Doch wie gesagt: Die Verfahren sind noch nicht besser, die Prozesse noch nicht schneller geworden. Das Verkehrssicherheitsprogramm, das krachend gescheitert ist, lief 2020 aus. Erst jetzt denkt man beim Senat über ein neues Programm nach. Eine Chance, für mehr Tempo zu sorgen, wäre das Pop-up-Verfahren. Radwege werden mit temporären Mitteln schnell eingerichtet, es wird beobachtet, wie sich die Veränderungen bewähren, und gegebenenfalls nachgebessert. Nach ein bis zwei Jahren wird die Maßnahme verstetigt.

Zu Beginn der Corona-Pandemie 2020 haben einige Berliner Verwaltungsleute mit der Schaffung von Pop-up-Radwegen Furore gemacht. Haben Sie eine Ahnung, warum dieser Verve nachgelassen hat?

Ich habe keine Erklärung dafür. Dabei ist das seit jeher eine unserer Hauptforderungen: Solange die Verfahren regulär so lange dauern, müssen andere, schnellere Wege genutzt werden. Wir brauchen viele neue Pop-up-Radwege in Berlin!

Bei der geplanten Teltowkanalroute im Südwesten von Berlin, einer der ersten Radschnellverbindungen in der Stadt, schlägt der Fahrradlobby Gegenwind aus ungewohnter Richtung entgegen. Der Fachverband Fußverkehr Deutschland und weitere Akteure kritisieren, dass die Route auch durch Grünanlagen führen und den Platz für Fußgänger:innen einschränken soll.

Der Konflikt, den Sie ansprechen, ist nicht gut, und er bringt uns im Sinne der Mobilitätswende nicht weiter. Derzeit werden in Berlin zwischen 120 und 130 Kilometer Radschnellverbindungen geplant, davon sollen gerade mal sechs Prozent durch Parks und andere Grünanlagen verlaufen. Da wird ein Randproblem hochgekocht. Wir sagen: Lasst uns anfangen, Radschnellverbindungen zu bauen, wo dies ohne Konflikte möglich ist! Wir sollten nicht weitere zwei, drei Jahre warten, bis die Bürgerinnen und Bürger einen Eindruck davon bekommen, was Berlin gewinnt. Bei diesem Thema gibt es ohnehin schon Verzögerungen. So hat der Senat vor einem Jahr gemerkt, dass es für jedes Projekt eine strategische Umweltverträglichkeitsprüfung geben muss. Vor ein paar Wochen haben wir nachgefragt, wie der Stand ist. Die Antwort lautete: Wir fangen jetzt an. Erst jetzt!

Von unserem Verlagshaus ist die Friedrichstraße in Mitte nicht weit entfernt. Immer wieder wird gefordert, dass auf dem für Autos gesperrten Abschnitt der Radfahrstreifen entfernt wird, damit die Straße eine echte Flaniermeile wird. Was entgegnen Sie?

Meine Einschätzung ist, dass der angebliche Konflikt zwischen Radfahrenden und Zu-Fuß-Gehenden auf der Friedrichstraße instrumentalisiert wird. Einige Menschen ärgern sich darüber, dass die Fahrbahn für Autos gesperrt und für Menschen freigegeben worden ist. Dabei ist der dortige Radfahrstreifen kein Highway, es geht gesittet zu. Auch was Unfälle angeht, ist die Situation unauffällig. Wenn Radfahrende mehr Platz bekommen, steigen die Umsätze des Einzelhandels, das zeigen Erfahrungen. Wenn ich dagegen den Radverkehr in weitem Bogen umleite, sinken die Einnahmen.

Fußgänger fühlen sich auf Gehwegen von Radfahrern bedrängt. Wie ließe sich das Verhältnis befrieden?

Es kann nicht sein, dass wir die Probleme zu den schwächsten Gliedern in der Mobilitätskette, den Fußgängerinnen und Fußgängern, verlagern. Es kann nicht sein, dass auf Gehwegen Rad gefahren wird oder dass Gehwege mit E-Scootern, Fahrrädern und Lastenrädern zugestellt werden. Zu diesem Thema bekomme ich immer wieder Mails. Zum Beispiel in dieser Tonlage: Ich bin 76 Jahre alt und fahre jeden Tag Rad, aber auf dem Bürgersteig, weil ich mich nicht auf die Fahrbahn traue. Wollen Sie mir jetzt sagen, dass ich das nicht darf? Ich kann darauf nichts anderes antworten als: In der Tat, Sie dürfen nicht auf dem Bürgersteig fahren, das ist nicht okay! Die Lösung muss sein, dass wir eine Infrastruktur schaffen, die auch für Seniorinnen und Senioren sowie Kinder sicher ist. Den dafür notwendigen Raum müssen wir vom Auto nehmen.

Die Zahl der Autos steigt, immer mehr SUV werden gekauft, auch in Berlin. Warum wollen so viele Menschen offensichtlich nicht Teil der Mobilitätswende sein?

Die meisten Menschen wissen schon, dass wir eine Klimakrise haben. Doch sie brauchen offensichtlich Impulse, um ihr Verhalten zu ändern. Nötig sind gute Radwege, breite Gehwege und ein attraktiver Nahverkehr. Aber wir müssen auch das, was nicht mehr passieren soll, unattraktiv machen. Die Mobilitätswende lässt sich nur erreichen, wenn die Zahl der Autos zurückgeht und Parkraum verknappt wird. Unsere Forderungen sind: Die Zahl der Autos in Berlin muss innerhalb der nächsten zehn Jahre halbiert werden, und jedes Jahr müssen in Berlin 60.000 Parkplätze umgewandelt werden. Der Platz, der dadurch frei wird, ist den Menschen zur Verfügung zu stellen – für Sitzbänke, Radwege, Gastronomie, Grün.

Wenn man Sie zur Feier im Tesla-Werk Grünheide eingeladen hätte, wären Sie gekommen?

Ich wäre nicht hingegangen, weder als Gast noch als Demonstrant. Sicherlich ist Elektromobilität ein Weg, um die Mobilitätswende zu erreichen. Doch wir dürfen nicht vergessen, dass die Tesla-Fabrik vor den Toren Berlins jährlich eine halbe Million Autos produzieren soll – Fahrzeuge, die wie andere Fahrzeuge auch Unfälle verursachen können und Platz verbrauchen. E-Autos zu produzieren ist nur dann sinnvoll, wenn mindestens die gleiche Zahl von Verbrennerfahrzeugen aus dem Verkehr gezogen wird. Das wäre klima- und verkehrspolitisch richtig. Aber in diese Richtung geht es nicht. Leider.