Christian Lindner: Der Drahtseilakt des FDP-Chefs
Köln - Häufig erinnert Christian Lindner an den Hochseilartisten Philippe Petit. Der spannte 1974 ein Seil zwischen den Türmen des World-Trade-Center und balancierte – illegal – über die New Yorker Straßenschlucht. Ein Fehltritt und sein Abenteuer hätte mit dem Tod geendet. Ähnlich der FDP-Chef. Wenn er über Grundgesetz, Flüchtlingsströme, doppelte Staatsbürgerschaft und die Nationalhymne spricht, dann gleicht das mehrfach einem politischen Drahtseilakt.
Lindners Mission ist, die Liberalen in den Bundestag zurückzuführen. Der Bundesparteitag, der diesen Freitag beginnt, ist da mehr als ein Ritual. Er ist Aufbruch, Einstimmung und programmatische Vergewisserung für die kommenden sechs Monate, die über die Existenz der FDP entscheiden, die der 38-jährige Rheinländer stark geformt hat. Es ist ein Alles-oder-nichts-Spiel.
Sorge vor Beifall von der falschen Seite
„FDP-Chef will, dass Özil bei der Nationalhymne mitsingt“, schreibt der „Stern“. Das ist ein Versuch, um den Durchschnittsbürger zu werben, der nicht fremdenfeindlich ist, wohl aber Unruhe verspürt angesichts türkischer Mitbürger, die vom liberalen deutschen Grundgesetz profitieren, hier aber ungeniert in Sprechchören nach der Todesstrafe rufen oder mehrheitlich für eine autoritär geprägte Verfassung in der Heimat stimmen. Wenn er eine „Generalinventur“ der deutschen Zuwanderungspolitik fordert, darf Lindner sich der Zustimmung sicher sein – und muss doch peinlich bemüht sein, Beifall nicht von der falschen Seite zu bekommen.
Die Liberalen gehören quasi zum Gründungsinventar der Bundesrepublik. Meist fiel ihnen die Rolle zu, Mehrheitsbeschaffer zu sein. Mit den Jahrzehnten haben sich auch Traumata und Misserfolge aufgebaut, die der Partei jetzt konzentriert zu schaffen machen. Die Jahre an der Seite Angela Merkels schwächten die SPD. Für die FDP sind sie zum Existenz-Problem geworden. Ebenso eine gefühlte Klientel-Politik wie die der Hotel-Steuer, die die Partei allein bereits an den Rand des Abgrunds geführt hat. Auch dies wird Lindner eine Lehre gewesen sein.
Die Opposition hat es leichter
Hinzu kommt Unerfahrenheit mit den operativen Anforderungen des Polit-Betriebs. Regieren ist mehr als schneidige Reden halten, auf allen medialen Kanälen vertreten sein und glanzvoll zum Spitzenkandidaten gekürt zu werden. Regieren ist ein Handwerk, und wer es nicht beherrscht, dessen gute Absichten werden pulverisiert. 1998 war das in den Anfangswochen von Rot-Grün zu beobachten. Auch in NRW erlebt Lindner, der als Oppositionsführer dem freundlichen CDU-Spitzenmann Armin Laschet die Schau stiehlt, wie die rot-grüne Landesregierung von Hannelore Kraft (SPD) sich im zermürbenden Alltag verschleißt.
Es wird eine wichtige Weichenstellung werden, ob die Partei auf die Übernahme von Verantwortung setzt oder, weil deutlich leichter, nur Opposition betreiben will. Zumindest hätte sie Zeit, die Personaldecke zu stärken – sofern sie in den Bundestag kommt. Denn neben Generalsekretärin Beer und dem Kieler Fraktionschef Kubicki gibt es wenig potenzielles Führungspersonal.
Auf alte Zahlen ist kein Verlass
So sehr die FDP um den Zeitgeist buhlt, so sehr ist er auch ihr Feind und der aller kleinen Parteien – was auch die NRW-Grünen lernen müssen. Menschen handeln heute widersprüchlich, Öffentliches und Privates verschwimmen, Ideologien werden als Ballast empfunden, und auch die Deutschen wollen überzeugt sein, dass Globalisierung ein Segen ist, der bei ihnen ankommt. Die Loyalität der Wähler schwindet. Sie wollen frische Gesichter und neue Antworten in einer Welt, in der Wandel das Leitmotiv geworden ist. Dass Wolfgang Kubicki ein Rekord-Wahlergebnis für Christian Lindner eher fürchtet, kommt nicht von Ungefähr. Derartige Geschlossenheit ummantelt, wie bei der SPD, häufig nur große Verzweiflung.