Ostdeutsche Identität: „Der DDR habe ich mich nie zugehörig gefühlt“
Die Rechtsanwältin Christine Grünther kommt aus Thüringen. Die Aufregung um den Osten versteht sie nicht. Sie sagt: Ihre Landsleute hätten es nicht anders gewollt.

Das Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ von Dirk Oschmann, Literaturprofessor aus Leipzig, ist sofort nach seinem Erscheinen zum Bestseller geworden. Und eröffnet eine neue Debatte über ostdeutsche Identität. Gibt es sie überhaupt? Was macht sie aus? Verbergen Menschen, dass sie aus dem Osten kommen? Sind sie stolz darauf? Die Berliner Zeitung lässt Menschen mit Ost-Biografie zu Wort kommen. Wollen auch Sie von Ihrer Erfahrung berichten? Wir freuen uns über Zuschriften an briefe@berliner-zeitung.de
Also ehrlich gesagt, verstehe ich die Aufregung um den Osten und die Ostler nicht ganz. Es gab ja eine freie Wahl im Frühjahr 1990 und die Parteien hatten verschiedene Wiedervereinigungsszenarien in ihren Programmen. Die Menschen in der DDR wählten die Parteien, die eine schnelle Währungsreform und den Anschluss (statt eines neuen Grundgesetzes) versprachen.
Alles, was wir jetzt beklagen, ist die logische Folge.
Ich komme aus Thüringen. Den Dialekt habe ich mir schon Anfang der 80er-Jahre am Institut für Lehrerbildung in Weimar abtrainiert. Weil so viele Lehrer unter dem Vorwand der stimmlichen Überlastung aus dem Schulsystem flohen, war Sprecherziehung damals obligatorisch.
Das Institut war so eine Art Kaderschmiede. Täglich wurden wir belehrt, wie privilegiert wir seien und wie hart die Arbeiterklasse für unser Studium schufte.
Mein Freund spielte Schlagzeug in einer Punkband, mit der ich viel Zeit verbrachte. Das war ein Frontalangriff auf die Institution. Im Westen seien solche Erscheinungen nicht verwunderlich, hieß es, aber im Sozialismus mit seinen großartigen Perspektiven brauche man das nicht. Immer wieder musste ich bei der Institutsleitung Erklärungen abgeben, auch die Stasi kam ins Haus.

Zeit in Weimar als ausgrenzend und bösartig erlebt
Ich habe diese Zeit als ausgrenzend und bösartig erlebt. Alles genau so, wie ich es später, als ich Zugang zu Literatur hatte, bei Wolfgang Leonhard nachlesen konnte. Ich habe das Studium abgebrochen und mir ein Umfeld gesucht, in dem sich Karriere von selbst verbot.
Der DDR habe ich mich nie zugehörig gefühlt.
Als ich 1985 nach Berlin kam, war das die Rettung. Berlin war damals schon ein freieres Pflaster. Ich arbeitete in der Stadtbibliothek, einem Zufluchtsort der Oppositionellen. Mit einem fantastischen Bestand an Westliteratur. Die Magazinarbeiter im Keller gründeten eine Punkband und probten dort. Wenn die Deckel der Rohrpost geöffnet wurden, um Bestellungen zu verschicken, konnte man das hören. Nach der legendären Luxemburg-Demonstration im Januar 1988 kam dann auch ein großer Teil der Belegschaft ins Gefängnis und ging von da aus in den Westen.
Nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung begann für uns alle das Leben. Ich konnte endlich Abitur machen. Am Kolleg waren wir die erste gemischte Ost-West-Klasse. Alle Freundschaften und Fraktionen bildeten sich unabhängig von der Herkunft. Aber das war nur ein Jahr lang so, in den nächsten Jahrgängen soll es erbitterte Fronten zwischen Ostlern und Westlern gegeben haben. Aber das weiß ich nur vom Hörensagen.
Als ich ab 1994 an der Humboldt-Uni Jura studierte, wurden gerade die Rechtsprofessoren überprüft. Ein Professor, dem Entlassung drohte, bat uns, zu protestieren und Petitionen zu unterschreiben. Das empörte mich. Ein paar Jahre früher hätte er protestierende Studenten, ohne mit der Wimper zu zucken, exmatrikulieren lassen. Natürlich wurden alle Stellen mit Westprofessoren besetzt, mit wem denn sonst? Unabhängige Akademiker gab es ja nicht in den neuen Bundesländern.
Ich habe in der Bibliothek als studentische Hilfskraft gearbeitet und dort passiven, aber erbitterten Widerstand des akademischen Mittelbaus gegen die neuen Chefs aus dem Westen erlebt. Und natürlich gab es bei jeder Party auf die Auskunft, ich käme aus Erfurt, die wohl als Kompliment gemeinte Antwort, dass man das gar nicht merken würde.
Als meine beste Freundin in den 90er-Jahren aus Kreuzberg nach Friedrichshain zog, bekam sie genauso viel Bafög wie ich, also weniger als bisher. Sie beschwerte sich und bekam die Auskunft, das sei der reguläre Satz für Ost-Berlin, was sie maßlos empörte. Denn das könne ja nur für Ostler gelten.
Zehn Jahre nach der deutschen Einheit, im Jahr 2000, absolvierte ich das Referendariat am Amtsgericht Wedding. Bei einem Gespräch mit meinem Ausbilder über Mieten ergab sich die Frage, wo ich wohne. Auf meine Antwort Prenzlauer Berg sagte er abfällig: „Da wollen ja jetzt alle hin.“ Ich konterte, dass ich dort schon seit 1989 wohne. „Das geht doch gar nicht“, trompetete er und brach mitten im Satz ab, um ein konsterniertes Aha von sich zu geben. Auch mein Mitreferendar versteinerte. Die Stille danach kann ich nicht beschreiben.
Die West-Chefs erklärten mir den Osten
Auf die Idee, bei Bewerbungen meinen Geburtsort zu verschweigen, wäre ich nie gekommen. Ich merkte aber schnell, dass es besser war, meine Herkunft in Gesprächen eher nicht zu betonen, vor allem dann, wenn meine Chefs aus dem Westen mir den Osten erklärten.
In meiner Anwaltskarriere fiel mir schnell auf, dass tendenziell die Anwälte eher Männer und aus dem Westen und die Büroangestellten eher Frauen und aus dem Osten waren. Gelegentlich gab es auch Rechtsanwältinnen, aber keine aus dem Osten.
Als ich anfing, bei der Berliner Zeitung zu arbeiten, fiel mir das alles wie Schuppen von den Augen. Zum ersten Mal ist meine Ostsozialisation kein Makel. Das Verschweigen und Sich-auf-die-Zunge-beißen ist hier nicht nötig, im Gegenteil. Ich erlebe, dass jeder seinen Horizont einbringt und dass das bereichernd ist. Das ist eine Erfahrung, die ich zum ersten Mal mache, und ich gebe zu, dass sich das Leben so viel freier anfühlt.