Coming-out in Berlin: "Manche sagten, dass ich stinke"

Jeden Morgen läuft er allein die Straße entlang, ganz in Schwarz gekleidet und hört traurige Musik über seine Kopfhörer. Wenn Jisu* von seinem früheren Schulweg erzählt, klingt es fast wie der Gang zu einer Beerdigung. „Morgens war ich immer ziemlich emo“, sagt der 16-Jährige heute und meint damit die emotionale Zeit an seiner ehemaligen Schule, an der er von seinen Mitschülern gemobbt wurde. Weil er schwul ist.

Sehr „emo“ war er an den Tagen, an denen er Sportunterricht hatte. Da zog er sich lieber auf der Toilette um statt in der Umkleidekabine, um nicht den Beleidigungen der anderen Jungen ausgesetzt zu sein. Jisu wurde von sein Mitschülern gemobbt, sie hielten den kleinen Asiaten für weichlich.

Weniger emo war er an den Tagen mit Französischunterricht, denn da saßen überwiegend Mädchen im Klassenzimmer, die mobbten ihn nicht. Ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, kam Jisu vor sechs Jahren mit seiner Familie aus Korea nach Deutschland.

Heute spricht Jisu akzentfrei deutsch, trägt karierte Hemden, die fast ein wenig zu seriös wirken für einen Teenager, und wird nächstes Jahr sein Abitur machen. Die Schule hat er mittlerweile gewechselt, an seinem neuen Gymnasium im Berliner Westen wird er wenigstens nicht mehr gemobbt. Dass er weder den Namen seiner Schule noch seinen richtigen Namen öffentlich machen möchte, liegt unter anderem daran, dass der Umgang mit Homosexualität selbst auf Schulhöfen in gutbürgerlichen Vierteln noch immer zwiespältig ist. „Homo“, „Schwuchtel“ , „schwule Sau“ sind gängige Beleidigungen – egal, ob in Wedding oder in Wannsee.

Sie fanden mich richtig eklig

Wenn Jisu von den Beleidigungen an seiner früheren Schule spricht, muss man genau hinhören. Er redet leise, höflich, und es klingt erstaunlich reif, wie empathisch er das Verhalten seiner damaligen Mitschüler zu verstehen versucht. „Wenn sich der coole Anführer einer Jungsclique vor Schwulen ekelte, dann taten das alle anderen auch. Und wenn man nicht Fußball oder Computerspiele spielte, dann gehörte man sowieso nicht dazu.“ Man kann sich tatsächlich nur schwer vorstellen, dass der schlanke junge Mann auf einem Bolzplatz einen Gegenspieler umrempelt.

Einmal schwärmte er für einen älteren Mitschüler und setzte sich in den Pausen in dessen Nähe. Seine Klassenkameraden, die den schweigsamen Koreaner ohnehin schon merkwürdig fanden, ahnten schnell, was los war. „Sie fanden mich richtig ekelig“, erzählt er. „Manche sagten, dass ich stinke, und irgendwann fing ich auch an, mich dreckig zu fühlen.“ Selbst im Ethikunterricht sprachen einige Jungen ganz offen ihre Vorbehalte gegenüber Schwulen aus: „Solange sie mir nicht zu nahe kommen“ war unter seinen männlichen Mitschülern noch die harmlosere Einstellung zu Schwulen. Die Mädchen wiederum fanden Schwule überwiegend „ganz süß“. Auch kein Attribut, mit dem Jisu unbedingt glücklich war. „Ich möchte wegen meiner Sexualität auch nicht süß gefunden werden. Ich bin einfach ein Mensch“, sagt er heute selbstbewusst.

Die Lehrer an Jisus neuer Schule haben das Thema Homosexualität auch ohne fest definierte Lehrpläne schon vor Jahren in ihren Unterricht aufgenommen. „Es widerspräche einfach der Berliner Lebenswirklichkeit, Liebe und Partnerschaft außerhalb der heterosexuellen Ehe zu ignorieren“, sagt eine Ethiklehrerin an Jisus Schule. Sie beobachtet allerdings beim Thema Homosexualität eine Doppelmoral unter den Schülern. Selbst diejenigen, die sich im Unterricht tolerant geben, finden es in ihrer Freizeit häufig völlig in Ordnung, „Schwuchtel“ zu rufen. „Das entzieht sich dann oft unserem Einfluss. Wir können da auch nur sensibilisieren“, sagt sie.

Relativierte Sexualität

In der koreanischen Kultur, in der Jisu und seine Eltern verwurzelt sind, ist Homosexualität ein gesellschaftliches Tabu. „Meine Eltern weinten beide, als ich ihnen erzählte, dass ich es nicht schaffe, mich für Mädchen zu interessieren“, erinnert er sich. Seine Wortwahl deutet bereits die Erwartungen an, die seine Eltern an ihren einzigen Sohn stellen. Jisu wusste bereits mit sechs Jahren, dass er anders ist als die anderen Jungen, mit zwölf hat er seinen Eltern gesagt, dass er schwul ist. „Ich glaube, meine Sexualität ist ihnen peinlich. Sie empfinden sie als Ausdruck eines schwachen Charakters.“ Vor seiner Mutter, die Jisu als eine stolze und ehrgeizige Frau beschreibt, relativiert er seine Homosexualität inzwischen, indem er ihr von Mädchen erzählt, die er auch nett findet. Er möchte sie nicht verletzen.

Unter seinen neuen Mitschülern hat Jisu Freunde gefunden, bei zwei Mädchen hat er sich sogar schon geoutet. Nach dem Abitur möchte er am liebsten in Berlin Medizin oder Psychologie studieren, seine Eltern werden dann wieder zurück nach Korea ziehen. Dass er dann in Deutschland ganz auf sich allein gestellt ist, sieht er gelassen: „Rückschläge im Leben wird jeder haben, auch meine Mitschüler. Ich weiß dann nur schon, wie man mit ihnen umgeht.“

*Name von der Redaktion geändert