Corona-Folgen: Warum müssen Kinder an Long Covid und Post Vac leiden?

#NichtGenesen fordert mehr Geld für Medikamentenforschung. Warum wird Menschen nicht geholfen, die nach Corona-Infektionen oder Impfungen schwer krank bleiben?

Eine Aktivistin von #NichtGenesen liegt bei einer Demonstration für mehr Forschung zu Long Covid, Post Vac und Fatigue mit Schlafmaske in einem Bett.
Eine Aktivistin von #NichtGenesen liegt bei einer Demonstration für mehr Forschung zu Long Covid, Post Vac und Fatigue mit Schlafmaske in einem Bett.Markus Waechter/Berliner Zeitung

Da ist die Geschichte von Kalea. Ihre Mutter hat sie erzählt. Es ist eine sehr traurige Geschichte. Sie handelt von einem zwöljährigen Mädchen, das an den schweren Folgen einer Infektion mit Corona leidet, an Long Covid, dem Post-Covid-Syndrom, an ME/CFS, auch als Fatigue bekannt. Früher war Kalea aktiv, sportlich, ein quirliges Mädchen. Dann steckte sie sich mit Sars-CoV-2 an, und ihr Leben änderte sich von Grund auf.

Seit Dezember 2021 kann Kalea nicht mehr die Schule besuchen. Sie hält sich in einem verdunkelten Raum auf, meist getrennt von der Familie, weil sie Geräusche nicht verträgt. Mit ihrem sechsjährigen Bruder hat sie schon lange nicht mehr gespielt; die Haut brennt höllisch, wird sie berührt. Essbesteck fällt ihr aus den Händen, es fühlt sich für sie an wie Bleigewichte. Kalea benötigt eine Therapie, die ihr das Leben zurückgibt, Medikamente und Wissenschaftler, die diese Medikamente entwickeln, ihre Wirkung ermitteln bei Long Covid, bei Post Vac, den Komplikationen nach einer Corona-Schutzimpfung – gegen Fatigue, das sehr häufig bei beidem auftritt.

Deswegen hat Kaleas Mutter die Geschichte an diesem Mittwoch vor dem Bundesforschungsministerium in Berlin erzählt, am ersten Internationalen Long-Covid-Gedenktag. Sie hat mit anderen Patienten und Angehörigen demonstriert, weil sie erreichen möchte, das Ministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) mehr Geld für klinische Forschung bereitstellt als die bisher bewilligten 12,5 Millionen Euro, die sich im Vergleich zum volkswirtschaftlichen Schaden von prognostizierten 50 Milliarden Euro jährlich verschwindend gering ausnehmen. Eine Million Erwerbsunfähige sind das, so lautet der technokratische Begriff für Menschen, die durch Krankheit vom beruflichen Alltag ausgeschlossen sind.

Fotos von Erkrankten vor dem Bundesforschungsministerium. Selbst demonstrieren können die Menschen nicht. 
Fotos von Erkrankten vor dem Bundesforschungsministerium. Selbst demonstrieren können die Menschen nicht. Markus Waechter/Berliner Zeitung

Hinter den nüchternen Zahlen stehen Schicksale wie das eines Schreinermeisters Josef aus Baden-Württemberg. Seit Juni 2021 kann er seine Werkstatt nicht mehr betreiben. Er infizierte sich früh in der Pandemie mit Sars-CoV-2, obwohl geimpft, auch Bruder und Vater erkrankten und verstarben kurz nacheinander. Josefs Frau war damals hochschwanger. Als das Kind zur Welt kam, fühlte er sich bereits so schwach, dass er den Säugling nicht mehr in die Arme schließen konnte. Vorher ein Kerl wie ein Baum, versagten nun seine Muskeln ihren Dienst.

#NichtGenesen: Wenn ein Kitakind dringend Medikamente braucht

„Er hat uns kontaktiert und gefragt, ob er seine Werkstatt verkaufen soll, die er ohnehin nicht mehr braucht, um den Erlös für die Erforschung von Medikamenten zu spenden“, sagt Ricarda Piepenhagen, und mit „wir“ meint sie die Initiative #NichtGenesen, die sie mitgegründet hat. #NichtGenesen hat auch die Demonstration vor dem Forschungsministerium in Mitte organisiert. Die Mitglieder haben Stellwände aufgebaut und Fotos daran aufgehängt. Von Leeven, vier Jahre alt, Kitakind, seit Dezember 2021 an Long Covid erkrankt. Von Tristan, acht, seit 2022 nicht mehr in der Lage, zur Schule zu gehen. Von Finn Levy, zehn, das Mädchen nimmt seit März 2021 nicht mehr am Unterricht teil.

Die Leute von #NichtGenesen haben einen roten Teppich vor dem Ministerium ausgerollt, der an einem roten Sofa endet. Dahinter, von einem Kran gehalten, ein großes Transparent, unübersehbar: „Wir leiden. Wir sterben. Sie schauen zu.“ Vier Betten flankieren die Szenerie. Eine Aktivistin mit Ohrschützern und Schlafbrille legt sich in eines der Betten als Motiv für die drei, vier anwesenden Kamerateams. Sie filmen auch die vier Bundestagsabgeordneten der Union, die vom nahen Paul-Löbe-Haus herübergekommen sind, allen voran Sepp Müller, den Fraktionsvize. Die Oppositionspolitiker versichern den Demonstranten Verständnis, Solidarität und Engagement im Gesundheitsausschuss und im Plenum.

Bettina Stark-Watzinger ist nicht gekommen, hat keinen Staatssekretär geschickt, keinen anderen hochrangigen Beamten. Vor dem Ministerium sorgen Touristen mit Rollkoffern für Störgeräusche, wundern sich Passanten über die Straßensperrung, die Polizei, verstehen die Botschaft der Demonstration nicht. Eigentlich hätte die Ministerin auf dem roten Sofa sitzen sollen, neben ihrem SPD-Kollegen Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der aber ebenfalls dem Licht der Kameras zu dieser Mittagsstunde fernbleibt. Symbolisch beides: die Uhrzeit kurz nach zwölf und das rote Sofa, auf dem Stark-Watzinger und Lauterbach ins Gespräch hätten kommen können.

Das ist eine der Forderungen, die #NichtGenesen stellt: Die Ministerien für Forschung und Gesundheit sollen endlich kooperieren. Eine Taskforce möge eingerichtet, die Kräfte gebündelt werden. Die Zeit drängt, und um diesem Druck gerecht zu werden, um dem Leiden von mehr als drei Millionen Menschen ein Ende zu bereiten, endlich, menschlich und vernünftigerweise, soll mit der Bürokratie Schluss sein: eigentlich ein Kernthema der FDP, die auch den Finanzminister stellt in Person des Christian Lindner. „Das Verfahren zur Genehmigung von klinischen Studien dauert bis zu ein Jahr lang“, sagt Ricarda Piepenhagen. „Die Chancen auf Erfolg liegen bei 25 Prozent.“

Am roten Sofa lehnt eine Tafel, darauf eine Karikatur. Sie zeigt Stark-Watzinger und Lindner. Sie sitzen auf einer Truhe, aus der Geldscheine hervorschauen. Sie verschränken die Arme und schauen auf eine Gruppe Demonstranten. Eine Frau im Rollstuhl hält ein Transparent hoch: „Help“. Kaleas Mutter hat ihrem Sohn die Karikatur gezeigt. „Warum sitzen die auf dem Geld?“, hat der gefragt. „Warum geben die das nicht einfach heraus?“

Eine Antwort darauf hätte jemand aus dem Forschungsministerium geben können an diesem Gedenktag für Long-Covid-Opfer. Doch Stark-Watzinger war zuletzt auf einem Bildungsgipfel tätig, ihre Mitarbeiter offenbar anderweitig beschäftigt. So nehmen Ricarda Lange und zwei Mitstreiterinnen von #NichtGenesen auf dem roten Sofa vor dem großen Transparent Platz und beschäftigen sich unter anderem genau damit: mit Bildung, dem Mangel an Fachkräften durch Long Covid, Post Vac, Fatigue, nicht nur, aber auch im Schulwesen. Sie halten ein Foto in die Kameras. Es zeigt eine Frau, 30 Jahre alt aus Sachsen, Sandra. Seit März 2022 kann sie nicht mehr als Lehrerin arbeiten.

Ricarda Piepenhagen mit Mitstreiterinnen: Demo der Long-Covid-, Post-Vac- und Fatigue-Patienten für mehr Forschung vor dem Bundesforschungsministerium.
Ricarda Piepenhagen mit Mitstreiterinnen: Demo der Long-Covid-, Post-Vac- und Fatigue-Patienten für mehr Forschung vor dem Bundesforschungsministerium.Markus Waechter/Berliner Zeitung

Dreimal geimpft auch sie, hat sie sich zweimal infiziert. Es dauerte eine Weile, bis die Symptome, die Long Covid und Post Vac eigen sind und von denen mittlerweile mehr als 200 identifiziert sind, bei ihr zuschlugen. Sie brach vor einer Klasse zusammen, musste vom Notarzt behandelt werden. Muskelschmerzen, Krampfanfälle, ME/CFS lautet auch bei ihr die Diagnose. Small-Fibre-Neuropathie wurde festgestellt und andere Komorbiditäten. Geschädigte Nerven, geschädigte Blutgefäße. POT ist ein weiteres Krankheitsbild, das mit Fatigue einhergeht, POT steh für Posturales Tachykardie-Syndrom. Immerhin zogen die eingeschalteten Ärzte die richtigen Schlüsse. „Das ist leider allzu oft nicht der Fall“, sagt Piepenhagen. „Unsere Mitglieder  berichten teilweise von Ärzten, die sagen: ‚Gehen Sie spazieren, bewegen Sie sich, dann gibt sich das mit der Müdigkeit schon von selbst.‘ ME/CFS hat aber nichts mit Müdigkeit zu tun.“

Long Covid: Eine Lehrerin versucht sich umzubringen

Sandra, die Lehrerin aus Sachsen, hat versucht, sich umzubringen. Sie hat die Einsamkeit nicht mehr ertragen, das Getrenntsein von ihren Schulkindern, hat das Gefühl nicht mehr ausgehalten, alleingelassen zu werden mit der Krankheit. Mit diesem Widerspruch, dass der Staat zu Beginn der Pandemie 750 Millionen Euro für die Entwicklung von Corona-Impfstoffen ausgab und nochmals einen stattlichen Betrag für die medikamentöse Akutversorgung, insgesamt knapp eine Milliarde Euro.

Privatunternehmen profitierten. Bei Long Covid, Post Vac, ME/CFS sind Kooperationen zwischen Universitäten und Unternehmen weniger förderungswürdig, offenbar. Das Start-up Berlin Cures zum Beispiel entwickelte ein Medikament, das im Kampf gegen Fatigue bisher gute Ansätze zeigt. „Es gibt noch zwei, drei andere Medikamente, die ebenfalls vielversprechend sind“, sagt eine Aktivistin aus Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Mann leidet an Long Covid. Er hatte das Glück, die für ihn geeignete Therapie zu erhalten. Bei ME/CFS  richten sich Antikörper gegen das eigene Immunsystem. Sie können bei einem Teil der Patienten mit einem Verfahren ausgewaschen werden, das Immunadsorption heißt. Es kostet 13.000 Euro pro Anwendung. Mehrere Durchgänge sind nötig: Nachdem sich der Zustand der Patienten deutlich verbessert, lässt die Wirkung nach einigen Wochen jedoch nach.

Von Anwendung zu Anwendung geht es vielen Patienten dennoch besser, sagt die Aktivistin aus Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Mann hat dieses Verfahren zur Blutreinigung zweimal durchlaufen. So wie es aussieht, kann er bald wieder anfangen, stundenweise in seinem Job als Beamter zu arbeiten. Der Anspruch eines gewöhnlichen Arbeitnehmers auf Unterstützung, die ihm die Krankenkasse gewährt, endet nach 78 Wochen. Danach erhalten die Betroffenen das sogenannte Arbeitslosengeld bei Arbeitsunfähigkeit. Die Arbeitsunfähigkeit nachzuweisen, ist hochkomplex. Schlimmstenfalls droht die Grundsicherung.

Schlimmstenfalls droht der Tod. Das sagt Ricarda Piepenhagen, die Initiatorin von #NichtGenesen. Drüben, jenseits der Spree, ertönt Militärmusik. Staatsempfang vor dem Bundeskanzleramt: Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand. Ricarda Piepenhagen steht vor einer der provisorisch aufgebauten Wände am Forschungsministerium, vor den Fotos. Und vor den weißen Kreuzen auf schwarzem Grund, dargestellt auf Pappquadraten, die für all die Toten stehen. Neben ihr die Mutter von Kalea. Sie berichtet von einem Gespräch mit ihrem Sohn. Es ging um die Frage, warum nach all den Jahren keine Medikamente zur Verfügung stehen gegen Long Covid, Post Vac, ME/CFS. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, hat die Mutter gesagt. Der Sohn: „Am Ende stirbt die Hoffnung doch.“