„Critical Mass“: Radfahrerprotest von unten
Berlin - Die „Critical Mass“ betreibt aktionistische Verkehrspolitik von unten. Es gibt keine Organisationen, dennoch folgen Tausende. Sie ist eine unangemeldete monatliche Fahrrad-Demo ohne feste Form. Was will die „Critical Mass“? Eine Annäherung an eine politische Bewegung, die keine sein möchte.
Jeden letzten Freitag im Monat versammeln sich seit 1992, ausgehend von San Francisco, in Großstädten in vielen Ländern der Welt Tausende von Radfahrern und fahren gemeinsam, seit 20 Jahren auch in Berlin. Start ist am Mariannenplatz in Kreuzberg. Heinz Wohlrab ist Verwalter der Facebookseite von „Critical Mass“. Dennoch, so sagt er, trete weder er noch sonst jemand als Initiator oder Verantwortlicher auf. „Das bin heute mal ich, das können beim nächsten Mal wieder ganz andere sein. Sie können mich ja als langjährigen Teilnehmer bezeichnen.“
Keine Organisatoren, keine erklärten Forderungen
Mit den weißen Strähnen unter der Radlermütze und dem durch Wind und Wetter gegerbten Gesicht, strahlt der 63-jährige Kulturmanager in seinem Sportdress zwar eine gewisse Radler-Professionalität aus. Doch er ist nicht als Organisator oder Ordner gekennzeichnet. Das muss er auch nicht, denn nichts ist hier als Demonstration angemeldet.
Keine Organisatoren, keine erklärten Forderungen, nicht einmal eine angemeldete Versammlung soll und will das sein. Dennoch ist der Mariannenplatz einmal im Monat voll von Zweirädern und für Autos oder Busse nur schwer zu durchdringen. Irgendwann fängt jemand an zu klingeln, andere stimmen ein. Sobald die critical mass – die kritische Masse an Leuten, die losfahren – erreicht ist, setzt sich der Pulk organisch in Bewegung. Ohne Ziel. Einer fährt los, die anderen fahren hinterher. „In dem Moment, wo wir als Organisation eine feste Route haben, müssten wir das als Demonstration anmelden. So treffen wir uns einfach zum gemeinsamen Radfahren. Wer vorne ist, bestimmt die Richtung“, sagt Wohlrab und sitzt schon auf seinem Rennrad.
Nach zehn Minuten sind alle unterwegs
Heute geht es erst Richtung Moritzplatz. Es dauert, bis alle in Bewegung kommen. Nach zehn Minuten rollen alle, die Damenräder, Rennräder, Mountainbikes und selbstgebauten Hochräder. Es ist ein Meer aus Neonlichtern an Speichen, ausgefallenen Kostümen und Anhängern mit lauter Musik. Sie fahren los, um – ja um was genau eigentlich zu tun? Heinz Wohlrab sagt: „Es geht um Gleichberechtigung der Radfahrer im Straßenverkehr. Deswegen treffen wir uns, um gemeinsam für unsere Rechte zu kämpfen. Reclaim the Street sozusagen.“ Also doch eine politische Forderung! Doch so einfach ist es nicht.
Für die Studentin Petra etwa ist die Radtour eine Mischung aus Spaß und Protest: „Auf die Art kann man Berlin aus ganz anderer Perspektive kennenlernen. Man fühlt sich einmal tonangebend im Verkehr, was sonst nicht möglich ist.“ Bei Hobbyradler Richard Schulz überwiegt der Spaß. „Wir sind ein Freundeskreis, der immer mitfährt, einfach, um zusammen Rad zu fahren. Mit den Aktivisten, wie etwa die vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad Club, die hier auch Flyer verteilen, haben wir eher nichts zu tun.“
Es sind vor allem individuelle Ansätze, die eine Art Gesamtforderungskatalog ergeben. Nach Angaben des Twitter-Accounts von Critical Mass nahmen an diesem 28. April etwa 2.700 Radler teil. Viele davon Aktivisten, die sich für den „Volksentscheid Fahrrad“ engagieren, der ein Gesetz zur Förderung des Radverkehrs forderte. Dabei sind Kinder wie Erwachsene, Studenten, Rennrad-Vereine, der ein oder andere Schlipsträger in Funktionsjacke, Antifas, Punks und Fundi-Grüne. Wer die Gruppe Fahrrad-Rocker auf ihren tiefergelegten Bonanza-Rädern fragt, warum sie hier sind, bekommt zu hören, dass sie eigentlich nur ihre Ruhe haben wollen. „Wir fahren zwar mit, aber wir wollen eigentlich unter uns bleiben“, sagt ein etwa 40-jähriger Mann in dunkler Lederjacke und prostet seinen Freunden zu. Man möchte als Gruppe wahrgenommen werden, aber nicht mit anderen interagieren.
Kein Stopp an der Ampel
Am Moritzplatz kommt der Fahrradzug ins Stocken, wohl wegen einer roten Ampel. Die sind jedoch meistens kein Problem, denn für das Ziel, zumindest einmal im Monat gleichberechtigt im Straßenverkehr zu sein, kommt der „Critical Mass“ in Deutschland unfreiwillig die Straßenverkehrsordnung zu Hilfe: Dort ist in Paragraph 27 festgelegt, dass eine Gruppe ab 16 Radfahrern einen Verband bilden, für den die Verkehrsregeln eines einzelnen Fahrzeugs gelten. Es darf nebeneinander gefahren werden, und wenn der erste des Verbandes über eine grüne Ampel fährt, darf auch der letzte mitgezogen werden, auch wenn die Ampel bereits umgeschaltet hat. So müssen an der Kreuzung Prinzenstraße/Gitschiner Straße Autofahrer 15 Minuten warten, als die 2.700 Radler abbiegen. Alles rechtens.
Doch bei all der Betonung darauf, dass es sich nicht um eine zentral organisierte Form des politischen Protests handelt; wäre ein organisierter Protest auf lange Sicht nicht erfolgreicher? Aus Sicht der Radler zeigen allein schon ihre monatlichen Treffen ihre Präsenz: Wir sind da, wir sind viele und wir können ganz ohne offiziellen Protest die Straße übernehmen, wenn wir das wollen. Allein das ist politisch, egal ob der einzelne Radler mit dieser Einstellung mitfährt oder nicht.
An diesem Freitag ging es über den Potsdamer Platz nach Schöneberg, von da Richtung Gedächtniskirche, durch den Tiergarten, über den Alex nach Friedrichshain. Mehr und mehr verließen den Pulk, andere blieben bis zum Schluss und standen am Ende wieder auf dem Mariannenplatz. Sie hatten völlig dezentral und unorganisiert wieder das Ziel erreicht.