Das vergammelnde Kulturhaus an der Spree
Der Autor erinnert sich an seine Kindheit, als er im Chor auftrat. Der Gesangsort ist heute eine Ruine.

Berlin-Am Ufer der Spree, nicht weit von meinem Zuhause, steht eine hässliche Ruine. Ihr Dach ist eingestürzt. Die Türen sind mit Platten vernagelt, die Wände mit Graffiti besprayt. Niemand kümmert sich um das Haus, das vor sich hin rottet. Tropfsteine bilden sich schon am Boden unter dem Vordach.
Einst hieß die Ruine Klubhaus Erich Weinert. Hier feierte ich meine Jugendweihe und den Schulabschluss. Auch an meine erste Begegnung mit dem Haus kann ich mich erinnern. Es war in der dritten Klasse, 1971. Meine Schulfreundin Katja und ich hockten in einer Ecke hinter der Bühne „Mir ist schlecht“, sagte Katja, „ich muss brechen.“ Wir waren sehr aufgeregt, denn wir sollten gleich auftreten. Im Saal saßen Hunderte Leute, und wir gehörten zum Chor der Schule.
„Hopp, hopp, stellt euch auf!“, rief die Chorleiterin. Der Vorhang ging auf. Und wir sangen los: „Guten Morgen, du glücklicher, junger Kapitän, wohin geht die Reise, die Flaggentücher wehn.“ Ein Junge mit hoher Stimme antwortete: „Nach Schanghai, nach Murmansk, nach Leningrad, da fahr ich. Kapitän bin ich heut. Ein Fischerjunge war ich.“ Nacheinander traten sie nun alle auf, die Vertreter der seefahrenden Werktätigen: der Steuermann, der Bootsmann, der Heizer, der Koch – ein dicker Junge mit einem riesigen Holzlöffel. Alles lachte. Das sozialistische Leben auf See schien sehr lustig zu sein, und unsere Übelkeit hatte sich langsam verzogen.
Das Lied stammte von dem kommunistischen Dichter Kurt Barthel, genannt Kuba. Nach ihm war unsere Schule jüngst benannt worden. Deshalb drehte sich das ganze Programm um ihn. Kuba hatte aber nicht nur muntere Seefahrerliedchen verfasst, sondern etwa auch das Thälmann-Lied, eine maßlos überzogene Heldenhymne auf den einstigen KPD-Vorsitzenden. Wir Drittklässler sangen sie mit großem Ernst. Aber was davon verstanden wir?
Irgendwann, nach dem Ende der DDR, erfuhr ich, dass Kuba genau jener Sekretär des Schriftstellerverbandes war, über den der Dichter Bertolt Brecht einst beißenden Spott ausschüttete. Kuba hatte nach dem Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 in der Stalinallee Flugblätter verteilen lassen, auf denen zu lesen war, dass das Volk das Vertrauen der Regierung verscherzt habe und es nur durch verdoppelte Arbeit zurückerobern könne. Brecht spottete: „Wäre es da nicht einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“
Aber von solchen Geschichten wussten wir damals noch nichts. Lachend liefen Katja und ich nach dem Auftritt nach Hause, erleichtert, dass wir es überstanden hatten, ohne uns auf der Bühne zu übergeben. Unweit davon bekam ich übrigens viele Jahre später, gegen Ende der Schulzeit, meinen ersten echten Kuss. Doch das ist eine andere Geschichte. Die Bühne liegt heute unter Bergen von Holz und Dreck. Im Saal wachsen Bäume und kleine Büsche. Das einstige Kulturhaus gehört zu einem Park, in dem Kinder und Jugendliche auf BMX-Rädern und Skateboards trainieren. Sie wissen nichts von alldem.